Als der mir gegenüber wesentlich ältere Nachbarssohn Horst P. Seefahrt studierte, übernahm ich öfters seine bis dahin geleistete Nachbarschaftshilfe.

Vis à vis wohnte das blinde Ehepaar Schepp. Als Hubert Schepp, der all seine Einkäufe noch selbst tätigte, verstarb, haben sich P’s der Oma Schepp noch mehr angenommen und sie mit den nötigen Einkäufen versorgt. Besonders Horst hatte dort viel seiner Freizeit geopfert. Wenn dann später auch Frau P. mal nicht einspringen konnte, kam ich gern zu Hilfe.

Trotz ihrer Blindheit war Frau Schepp sehr aufgeschlossen. Mit ihr konnte ich mich gut unterhalten, sie wirkte auf mich manchmal wie ein unausgesprochener Ersatz für Oma Hedwig, allerdings in einer doch ganz anderen, beleseneren Weise.

Oma Schepp ist fast 100 Jahre alt geworden und an der Ostseeküste in der Nähe von ihrem Horst im Altersheim Kühlungsborn verstorben.

Blindenschrift-Alphabet (Quelle)
Matritze + Griffel (Quelle)
Blindenschrift (Quelle)

Ich erlernte damals autodidaktisch die Brailleschrift (Blindenschrift) und habe dann mittels einer Bleimatritze und einem Kupfergriffel Oma Schepp etliche Male Post zukommen lassen. Das tat ich besonders im Urlaub und während meiner späteren qualvollen Armeezeit. Ich stanzte dann die einzelnen Buchstaben seitenverkehrt in Spiegelschrift auf Postkarten. So konnte sie dann die rückseitig erhabene Blindenschrift entziffern. Die Karten steckte ich dann in unfrankierte Briefumschläge. Denn Blindenpost ist portofrei!

Warteschlange (Quelle)

Ab etwa 6. Schuljahr wurden mir schleichend immer mehr Aufgaben von meiner Mutter auferlegt.

So hatte ich nun fortan bis zu Beginn meiner Lehrzeit den wöchentlichen Familieneinkauf zu erledigen. Und das war zu DDR-Zeiten entschieden schwerer als heute. Allein beim Fleischer stand man mindestens 30 Minuten in endlosen Warteschlangen, ich weiß allerdings bis heute nicht warum das alles so lange dauerte. Es war absurd, abstrus. Wir lebten in Abstrusistan, denn wenn es nichts zu kaufen gab, hätte es doch eher schneller gehen müssen.

Abends wurde dann penibel auf Mark und Pfennig abgerechnet. Dass ich wahrheitsgemäß alles niederschreibe beweist schon, dass ich noch heute alle gängigen EVP (Endverbraucherpreise) kenne, denn die haben sich in der DDR über Jahrzehnte nicht geändert und bei mir in den paar Jahren eingebrannt. Also:

1 Pfund Haferflocken 49 Pfennige, ein 3-Pfund-Brot kostete einfach 78 Pfennige und 93 Pf., wenn es ein Mischbrot war. Der halbe Liter Milch immer 36 Pfennige, 1kg Gehacktes 7,20 Mark. Das Stück Butter gab’s zu 2,45 oder auch zu 2,50 Mark. Ein Glas feine Erbsen kostete stolze 2,45 Mark und so weiter …

Diese Preise galten DDR-weit!

Verkäuferinnen (Quelle)

Oft stand ich auch vor geschlossenen Verkaufsstellen. Mitten an Werktagen hängte dann eine Verkäuferin ein Schild an die Tür oder in das Schaufenster: “Wegen handelspolitischer Schulung geschlossen”. Oder aber eins, was Hoffnung verströmen ließ: “Wegen Warenannahme geschlossen”.

Da konnte man sicher sein, dass innerhalb kürzester Zeit Menschentrauben vor dem Laden standen. Alle in der Hoffnung, dass es irgendwas nachher zu kaufen gibt, was es lange nicht gab. Die Verkäuferinnen brauchten diese selbst verordneten Schließzeiten, denn sie mussten ja alles einräumen oder aber bei besonderen Angeboten für ihre Verwandtschaft und Bekanntschaft bei Seite schaffen, was nur ging. Stand man sich mit der Verkaufsstellenbelegschaft gut, konnte es auch passieren, dass einem unaufgefordert irgend etwas Verpacktes in den Korb gelegt wurde. Es war dann immer ein bisschen wie Weihnachten. Man bezahlte und sah erst zu Hause was man gekauft hat … ;)

Da 10 Minuten nach eins die Schule beendet wurde, schaffte ich es fast immer pünktlich zum Testfilm. Das DDR-Fernsehen strahlte jeden Wochentag in den 60-er Jahren 13:15 Uhr einen “Testfilm” aus. Oft neueste Filme. So auch den damals gerade abgedrehten sowjetischen utopischen Film “Der Amphibienmensch”. Da hatte der Sohn eines Professors Kiemen eingepflanzt bekommen und konnte so ewig im “Schwarzen Meer” den Fischen nahe sein. Natürlich stellten dem nun westliche Agenten nach. Aber egal, spannend und dramatisch war der Film allemal. Das war ein absoluter Höhepunkt, wenn dieser Film ausgestrahlt wurde. Den sah ich bestimmt fünf Mal.

Ebenso spannend, aber nicht für uns gedacht, war “Der König des Böhmerwaldes”. Ein tschechoslowakischer Film, der in den Nachkriegsjahren spielte und das Leben der Schmuggler Richtung Bayern zeigte. Ein für uns sehr dramatischer Streifen …

Ich hatte um diese Zeit natürlich immer Fernsehverbot!

Ich hatte aber auch einen guten Blick aus dem Wohnzimmer zum Heinrichsplatz.

So habe ich oft den Fernseher noch rechtzeitig ausgeschaltet, wenn ich den Urania-Dienstwagen meiner Mutter zwecks Kontrollbesuch anfahren sah. Sie ließ sich dann extra von der Arbeit ankutschieren, um mich zu kontrollieren.

Später half auch das rechtzeitige Abschalten nichts mehr. Meine Mutter lernte auch dazu und fasste dann nur noch an die Fernseher-Rückwand. Die Wärme der Bildröhre verriet mein Tun. Als einzige Begrüßung bekam ich postwendend eine Ohrfeige und Mutter verschwand wieder.

So manches Mal habe ich dann wegen ihr nur noch den Filmrest mitbekommen …

Meinen aufgestauten Frust kompensierte ich einige Male. Dabei half mir meine Schwester, allerdings unfreiwillig. Kurz bevor sie nachmittags zum Englisch-Unterricht wollte, lockte ich sie mehrere Male in die Speisekammer. Jedes Mal unter einem anderen Vorwand. Dann schloss ich von außen ab. “Pünktlich” nach Unterrichtsbeginn durfte sie wieder raus – und kam prompt zu spät. Böser Bruder!

Ich hatte ihr gegenüber aber auch liebe Momente … :)

Volker's Mütze

So habe ich oft für uns Beide Mittagessen gekocht oder etwas gebraten. Aus steter Ermangelung an größeren Vorräten gab es sehr oft Bratkartoffeln.

Ich bin aber auch zuvor noch so manches Mal durch die Kleingärten hinter der Käthe-Kollwitz-Straße geschlichen und habe die eine oder andere gesunde Zutat geklaut. Oder viele, viele Maiskolben direkt vom Acker geholt. Dann waren wir auch satt, ein Lob habe ich dafür jedoch nie erhalten.

Doch! Einmal bekam ich eine Mütze außer der Reihe geschenkt! Ich wünschte aber, den Tag hätte es nie gegeben!

Ich war bestimmt schon 13 Jahre alt und sollte fortan mit einem “Schiffchen”, wie es die Russen trugen, nur eben in grauem Kunstfell, rumlaufen. Als einziger Junge in Quedlinburg! Das war eine Art “Karsai-Mütze” (derzeitiger Regierungschef in Afghanistan), war vielleicht auch ein überzähliges Gastgeschenk aus Kasachstan, Usbekistan oder Afghanistan?

Ein Geschenk für Abstrusistan und ich war der Auserwählte!

Ich habe mich geschämt, geschämt, geschämt. Gerade erst konnte ich mich der scheußlichen Badehose entledigen, da hatte ich schon den nächsten Mist an der Backe. Wo hatte meine Mutter nur ihren guten Geschmack gelassen?

Wenn ich allein lief, trug ich die hässliche Kappe immer unter der Jacke. Doch musste ich auch oft genug neben meiner Mutter herlaufen. Dann wohlbehütet … Grauenvoll!