In der Schule wurden wir zur stetigen Heimatliebe erzogen, es wurde dabei aber jetzt auch schon direkt gegen den Westen gehetzt. Agitation hieß das, ist aber doch das Selbe gewesen. Wir sollten alle kein Westfernsehen einschalten, möglichst noch die Eltern “positiv” beeinflussen. Wir sollten nie Kontakt zum Westen haben, nein den haben überzeugte Kommunisten nicht …
Unsere kleine Republik war ja dem Westen überlegen … (Nur wo?)
In dieser Zeit des Kalten Krieges besuchten uns aber schon regelmäßig Familie S. aus Düsseldorf. Ich wurde da regelrecht in einen Gewissenskonflikt gestürzt …
Sollten wir doch nie lügen! Jetzt aber sollten wir niemandem was vom Besuch erzählen, auch nicht von den Geschenken, die wir bekamen.
Offiziell wurden S. zu deutsch-deutschen Gesprächen geladen. Die fanden allerdings in Dresden statt, wo beide auch noch viele Freunde hatten.
Meine Mutter trat voller Überzeugungskraft für die Gesetze der DDR ein. Ich merkte aber, dass diese für sie selbst nicht immer so ganz genau gelten sollten. Niemand sollte mehr West-Kontakte haben, wir schon, das war ja etwas Anderes.
Überall taten sich Widersprüche auf, sie stärkten aber ungewollt nur mein Gerechtigkeitsempfinden. Eine gute Lebensschule!
Während eines Besuchs statteten Tante Aenne und Onkel Hans auch der Witwe Stünkel aus der Heiligengeiststraße einen Besuch ab. Gegenüber des “Rates des Kreises”, dem heutigen Landratsamt, betrieb bis kurz vor ihrem Besuch das betagte Ehepaar Stünkel 2 Geschäfte. Eher Geschäftchen, in zwei verschiedenen schmalen Fachwerkhäusern. Sie verkaufte Gemüse mit dem damals recht spärlichen Angebot und Herr Stünkel betrieb einen kleinen Uhrmacherladen.
Herr Stünkel war geraume Zeit zuvor verstorben. Seiner Witwe oblag nun, das verwaiste Geschäft zu räumen. Onkel Hans bot sofort seine Hilfe an. Sie aber meinte, dass sie schon alles in die Wege geleitet hätte, doch könne Onkel Hans sich dort nochmals umsehen und alles was er gebrauchen kann, mitnehmen. Während Tante Aenne nun mit Frau Stünkel ein Schwätzchen hielt, haben Onkel Hans und ich den Uhrmacherladen “geplündert”. Etliche defekte Armbanduhren und einige Taschenuhren wurden eingesackt. Viele hunderte Uhrengläser haben wir da mitgenommen. Mit denen vollführte ich zum Leidwesen unserer Lehrer tollste Tauschgeschäfte.
Was man mit einem Uhrenglas anstellen kann, führte mir Onkel Hans gleich im Anschluss auf dem Bahnhofsportal vor.
Onkel Hans war eine stattliche, leicht untersetzte Erscheinung Mitte vierzig. Er stand im feinen Anzug und mit Gehstock zu unserem Spaß mitten auf der Bahnhofstreppe, zur Stadt blickend. Die Krönung war nun ein Uhrenglas, welches er sich als Monokel vors rechte Auge klemmte. So dastehend haben ihn viele, besonders aber ältere Quedlinburger, ungläubig angesehen. Die dachten wohl, der von den derzeitigen Machthabern enteignete Samenzüchter Dippe wäre wieder im Land …
Zu Hause angekommen, wurden die neuen Schätze verteilt. Klar doch, dass ich fast alle Uhrengläser einstrich. Onkel Hans kramte noch einiges Werkzeug aus der großen Reisetasche, das ab sofort im Keller gelagert wurde, und etliche größere Unruhen, die sich prima als Kreisel eigneten. Doch unter all den Taschenuhren und deren Resten, blinkte eine einzige neusilberne tadellos funktionierende Uhr aus dem ganzen Schrott. Zu meinem Leidwesen hatte die der Onkel aber meinem Vater zugedacht.
Schon am nächsten Schultag saßen viele Augenkranke im Unterricht, mit meinen Monokeln … Und wer war Schuld?
Nein, nicht Volker, diesmal war es unser “Klassenfeind”, mein Onkel Hans.
Westfernsehen haben wir zu Hause immer empfangen. Beliebte Serien wie “Fury” (das wilde Pferd), “Flipper” (der Delphin), “Skippy” (das Buschkänguruh), “Lassie” (der überschlaue Collie) oder aber “Bonanza” mit Little Joe!
Nie wäre uns eingefallen beispielsweise Sonntagmittag das DDR-Fernsehen eingeschaltet zu lassen. Denn da bekamen jede Woche unsere “doofen” Bauern in der Sendung “Flora und Jolante” erklärt, ob sie pflügen, säen oder gar ernten müssen.
Begleitet wurde die Landwirtschaftssendung von einer dumpf-drögen rollenden Musik und einem knolligen dicken Mann. Sah selbst wie eine vollreife Steckrübe aus. Ich könnte die fürchterliche Melodie heute noch summen, will ich aber nicht.
Ziemlich zeitgleich begannen da auf dem anderen, verbotenen Kanal, obige Filme …
Wir Kinder sollten dann aber in der Schule die Unschuld spielen. Mich hat das, ebenso wie die meisten Mitschüler, einen Dreck interessiert. Wir haben ganz offen alles Gesehene besprochen, allerdings allein.
Unsere Lehrer hinterfragten anfangs ganz listig, ob unsere Fernsehuhr Striche oder Punkte hat. Die Lehrer wurden jedoch schnell durchschaut! Bekamen die passen Antwort!
Hatte die Uhr Punkte war das Elternhaus offensichtlich linientreu. Striche aber verrieten die notorischen ARD-Gucker.
So lernten wir schon als Kinder, dass zwischen dem was man denkt und dem was man spricht, Welten lagen. Oft war es eben sinnvoller, Regime-ergeben zu formulieren. Daher stammt auch der Ausdruck: “Ich bin gelernter DDR-Bürger”. Wir konnten uns, glaube ich, besser und schneller anpassen …
Dieses politische Lügengespinst war allgegenwärtig. Nicht nur bei uns. Meine Mutter war auch Kommunistin, nahm gleichzeitig aber alle Vergünstigungen, die sie betrafen, gern in Anspruch.
Das habe ich schon früh gespürt, sie aber behauptet heute noch, dass die DDR das bessere System war. Sie gesteht sich offen bis heute nicht einen einzigen eigenen Fehler, geschweige denn die SED-Schuld am Untergang ein.
Das ist der mir unbegreifliche Makel einer ganzen Altersriege innerhalb der ehemaligen SED (“Die Partei, die Partei, die hat immer Recht”).
Zum Verständnis die 1. Strophe und der Refrain von “Das Lied der Partei”:
Sie hat uns alles gegeben. Sonne und Wind und sie geizte nie. Wo sie war, war das Leben. Was wir sind, sind wir durch sie. Sie hat uns niemals verlassen. Fror auch die Welt, uns war warm. Uns schützt die Mutter der Massen. Uns trägt ihr mächtiger Arm. Die Partei, die Partei, die hat immer Recht! Und, Genossen, es bleibe dabei; Denn wer kämpft für das Recht, Der hat immer recht. Gegen Lüge und Ausbeuterei. Wer das Leben beleidigt, Ist dumm oder schlecht. Wer die Menschheit verteidigt, Hat immer recht. So, aus Leninschem Geist, Wächst, von Stalin geschweißt, Die Partei - die Partei - die Partei.
Und genau aus dieser landesweiten katzbuckelnden Haltung heraus ist die DDR zugrunde gegangen.
Verantwortliche trauten sich selbst nie etwas zu hinterfragen, hatten sie doch alle noch die stalinistischen Schauprozesse im Kopf, die um 1953 Tausende ins Unglück stürzten. Sie kannten nur das unterwürfige System, in dem sie nur kuschend gut überleben können …
Warum nur wurde ein ganzes Volk entmündigt? Warum durfte nie jemand Kritik üben, selbst wenn er doch nur zum Besseren verändern wollte? Was hätte aus der DDR werden können? Auch sie hätte blühen können! Doch ohne Ehrlichkeit?
Vor was hatte die SED-Führung eigentlich Angst? Nur vor ihrem eigenen Volk!
Dem misstraute sie bis zum letzten Atemzug.
Jeder von uns Menschen ist nur eine kurze Zeit Gast auf diesem Planeten!
Mit welchem Recht vermiesen dann immer wieder selbst ernannte, nicht mal demokratisch gewählte “Eliten” dem gemeinen Volk ein schönes oder zumindest angemessenes Leben?
Mutters Urania war ja die “Gesellschaft zur Verbreitung wissenschaftlicher Erkenntnisse”. Da wurde auch schon wieder von Staats wegen gemogelt, denn das Hauptaugenmerk der Urania lag zumindest in der DDR auf politischen Schulungen. (Die Urania gab’s ja auch im Westen).
Dem eigentlichen Gründungsgedanken, nämlich der breiten Bevölkerung allgemeinverständlich die Wissenschaft nahe zu bringen, wurde bald völlig ignoriert. Von den paar interessanten Dia-Lichtbilder-Vorträgen für die FDGB-Urlauber mal abgesehen …
Ab und zu holte ich meine Mutter von der Arbeit ab. Oder ich wurde aus irgendwelchen Gründen dort hinbestellt, um für sie nachfolgend Wege zu erledigen, Einkäufe zu tätigen.
Da kam es auch hin und wieder vor, dass sie mich kurzzeitig im Büro alleine ließ. Manchmal fanden auch Empfänge nebenan in der SED-Kreisleitung statt, weil irgend ein SED-Würdenträger Geburtstag hatte … Der Personenkult wurde gelebt.
Wenn ihre Sekretärin sich ebenfalls “abseilte”, nutzte ich die Gelegenheit und telefonierte nach Herzenslust. Allerdings kannte ich niemanden mit einem Telefonanschluss. Macht nichts! So wählte ich willkürlich Nummern und verscheißerte in kindlicher Freude die Angerufenen. Dabei bin ich nie erwischt worden …
Bei uns sah das Familienleben sehr oft anders aus als bei meinen gleichaltrigen Mitschülern. Unsere Mutter kam aufgrund ihres Amtes mit den Jahren immer unregelmäßiger und oftmals erst spät am Abend heim. Gut, wenn dann bereits “Butler Volker” alle aufgetragenen Einkäufe getätigt hatte. Und wir Kinder schon den Abwasch erledigt hatten.
Ich habe mir unser Familienleben schon als Kind, besonders im Alter zwischen meinem 10. und 15. Lebensjahr, sehr oft eine Spur harmonischer gewünscht. Das waren die Jahre 1961 bis 1966.
Unser Vater versuchte dann, solche tristen Abende für uns angenehmer zu gestalten. Er erzählte uns die tollsten Geschichten und verfiel dabei ungewollt oft in seine wohl “relativ schöne” Elsässer Kriegsgefangenschaftszeit. Wir bemerkten dabei jedoch nie, dass er aber ganz bewusst alle erlebten Kriegsgräuel aussparte. Vati hat uns stets blendend unterhalten.
Er wünschte sich garantiert auch einen in der Schule besser funktionierenden Sohn, spüren ließ er mich dies aber niemals. Ein feiner Vater, ich habe einen guten Vater.