Im Laufe seiner HO-Tätigkeit “verabschiedeten” sich einige Kollegen meines Vaters gen Westen, allerdings ohne Tschüss zu sagen. So erzählte er mir von seiner körperbehinderten Kollegin S., die gar mit ihrem Motorroller bis ans Sperrgebiet fuhr und sich dann hinkend verkrümelte.

Bei ihm in der Abteilung lernte auch ein junger Artist als zweites Standbein das Dekorieren und bei meinem Vater das Plakate malen. Es war Wilfried Weisheit. Er gehörte zu “Weisheits Luftpiloten”, der Harzgeröder Hochseiltruppe, war später gar deren Chef. (Weitere Teile der Weisheit-Dynastie sind die “Geschwister Weisheit”, Hochseilartisten aus Gotha, die heute noch auftreten und sein Bruder, der in Zirkussen Europas auf dem Hochseil auftrat.)

In den 60-ern wurde Wilfried für 3 Monate freigestellt. Die Lehre fand ohne ihn statt. Er sollte statt dessen Devisen für die DDR im nicht sozialistischen Ausland erwirtschaften. Es ging zu einer Tournee nach Südamerika. Die DDR-Oberen wollten zu gern die dabei verdiente harte Währung, trauten aber ihren Artisten, so wie auch dem übrigen Volk, nicht über den Weg.

Bei jedem Auftritt wurde nach Erklimmen des Hochmastens üblicherweise die DDR-Fahne aufgepflanzt. Hier aber wurde den Artisten dies von ihren Begleitern verboten. Der Grund: Die DDR war noch in keinem Staat Südamerikas anerkannt.

Hier geschah eine weitere Flucht. Nach Ableisten der gesamten erfolgreichen Tournee fehlte auf dem Flugfeld in Santiago de Chile ein Funktionär. Der genoss erst noch die gesamte Südamerika-Rundreise ehe er sich verflüchtigte. Nutzte am letzten Tag die Gunst der Stunde, um einen Flug nach Westberlin zu nehmen, denn dort wartete bereits seine Verlobte.

Bei Befragungen durch die Staatsorgane wurde festgestellt, dass nicht ein Artist fehlte.

Sichtlich mit größter Freude erzählte mir mein Vater davon, ich spürte als Heranwachsender bereits unbewusst auch bei ihm leichtes bis mittelschweres Fernweh. Zu gern hätte er wohl auch mal mit seinem Bruder die Rollen getauscht. Oder diesen eben nur besucht. Doch das war vorerst Utopie!

Er hat sich sehr wohl überlegt, wem und wie er davon berichtet. Meiner Schwester blieben damals auf Grund ihres Alters solche “Sehnsuchtsgespräche” verborgen.

Wie skrupellos aber die DDR-Behörden verfuhren, zeigte sich bei seinem späteren Kollegen O.. Dieser war ein Scheidungskind. Die Mutter lebte mit ihm im Westen, der Vater aber verblieb in Blankenburg/Harz.

Als O. als Halbwüchsiger seinen Vater ohne Papiere im Osten besuchen wollte, blies er alle diesbezüglichen Warnungen in den Wind. Reiste ohne Papiere als Jugendlicher in die DDR ein. Hier kam er erst in Verwahrung und wurde später, nach dem Treffen mit dem Vater nicht mehr aus der DDR gelassen. Der Staat erdreistete sich, einen jugendlichen minderjährigen Westdeutschen seiner Freiheit zu berauben. Ungeheuerlich! Folglich richtete sich O. notgedrungen hier ein, gründete irgendwann eine Familie, und verschwand mit Frau und Kind eines Tages mit Hilfe des Interzonenzuges gen Westen. Er besaß falsche Papiere. Offensichtlich perfekte. Obwohl seine Flucht glückte, lebt O. heute im geeinten Deutschland wieder in Quedlinburg …

Selbst an meiner Martin-Schwantes-Oberschule blieben solche “Überläufe” nicht ganz unbemerkt: So gab es den Schüler Eckhard H., wohnhaft am Moorberg, maximal 2 Jahre älter als ich, der nach dem Mauerbau gar mehrere Male von Deutschland nach Deutschland wechselte. Der schien einen praktikablen Weg zu kennen. Kaum war der abgehauen, war er zurück und nach ein paar Tagen Jugendwerkhof (geschlossene Anstalt mit rigiden Erziehungsmaßnahmen) wieder an unserer Schule. Dann war er wieder weg. Für immer, dachten wohl die Meisten.

Aber nein, er kam nochmals, fuhr ein Motorrad und nahm seinen Freund Heinz K. aus der Bergstraße mit in den goldenen Westen. Raus kam das nur, weil ursprünglich drei Jugendliche auf der Karre saßen. Doch als in der Johannishöfer Trift die Deutsche Volkspolizei das Trio im Vorbeifahren erblickte, gab Eckhard richtig Gas. Am Ochsenkopf etwa hat er dann, weil’s zu langsam ging und die Ordnungshüter dicht aufkamen den dritten Mann, namens F., vom Klopstockweg, abgeworfen. Die zwei Verbliebenen aber zischten weiter in Richtung Harz.

F. hatte wohl die wärmere Nacht erlebt, dem wurde nun tüchtig eingeheizt. Ab nun blieb H. wirklich verschollen. Nochmaliges Einreisen hätte ihm Knast wegen Menschenhandel eingebracht. Was ich bis dahin noch nicht wusste, erzählte mir Herbert, sein zurück gelassener jüngerer Bruder.

Im zweiten Lehrjahr türmte, naheliegender Weise auch über den Harz, mein Neudorfer Mitlehrling Erich. Nachdem er drüben erste Eindrücke gesammelt hatte, trottete er wohl auch aus Heimweh reumütig zurück. Nach relativ kurzer Jugendstrafe oder “Umerziehung”, durfte er wieder heimwärts laufen und seine Lehre noch pünktlich und erfolgreich beenden.

Den meisten unbeteiligten Mitmenschen waren diese Schicksale und Lebenswege Wurst. Mich aber interessierten die schon immer ungemein, nahm insgeheim an jeder Flucht persönlich Anteil. Ich hatte aber zu vielen Geflüchteten auch wirklichen persönlichen Bezug, selbst Vaters getürmte Kollegen kannte ich alle …