Im Jahr 1964 erlebte ich als 13-Jähriger die Soldatenlieder brüllende Wehrmacht.

Die marschierte in langer Kolonne von der Öhringer Brücke kommend zum Bahnhof.

Wie war das möglich?

Aufklärung gab’s schon an einer ersten Kamera in Höhe des Gaswerkes. Eine weitere Filmcrew postierte sich unmittelbar am Bahnhof.

Hier wurde also ein DEFA-Film gedreht, es war “Die Abenteuer des Werner Holt”.

Nach diesem und einem weiteren Dreh auf dem Bahnsteig 1 wurde den Soldaten das Umziehen befohlen. Sie mussten nun aus ihren grauen Wehrmachtsuniformen. Das war recht schnell und einfach zu bewerkstelligen. Die rissen sich lediglich die Hakenkreuzadler von der Brust und schon stand die Nationale Volksarmee auf dem Bahnhofsvorplatz. Das warf in mir Fragen auf!

Der sozialistische Staat gab fast die Hälfte seines Budgets für seine äußere Verrammelung und innere Sicherheit aus, sparte aber an neuen zeitgemäßen Uniformen? Als staatliches Alibi wurde im Staatsbürgerkunde-Unterricht dann von preußischen Traditionen als Rechtfertigung gefaselt. Tut mir leid, das habe ich bis heute nicht nachvollziehen können.

Hier nun zum Vergleich die Uniformen, möge jeder selbst urteilen …

Wehrmacht
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Wehrmacht 2
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NVA
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NVA
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Wehrmacht
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Nach einem kleinen Sprung von 4 Jahren wurde auch ich, kaum 17, noch keine 18 Jahre alt, schon vom Wehrkreiskommando Quedlinburg belästigt. Nach der Berufsschule wurden wir klassenweise ins Jugend-Klubhaus Reichenstraße bestellt. Die Uniformierten und Zivilangestellten der NVA (Nationale Volksarmee) löcherten uns mit dummen Fragen und bedrängten jeden Einzelnen, längeren Wehrdienst als es das Gesetz vorsah abzuleisten und sofort zu unterschreiben. Das geschah teilweise bereits vor den eigentlichen Musterungen. Meine fand am 09.04.1969 in der Weberstraße statt. Ich sollte anfänglich Mot-Schütze werden, tatsächlich bin ich dann aber ein Jahr später bei den Baupionieren gelandet … Seelenfänger waren das!

Während meines Staatsbürgerkunde-Unterrichts, erfuhren wir von französischen “Kopfgeldjägern”, die junge Männer auf französischen Straßen und vor Kneipen abfingen und zur Fremdenlegion warben. Das hier waren erschreckende Parallelen!

Bei mir stieß deren Werben auf taube Ohren. Ich stellte mir nur die selbst erlebte Episode mit Boris vor und wusste, was das Militär ist: Ein verlogener Haufen Uniformierter, der auch schon mal einen einzelnen Rekruten ohne Grund verrecken lässt.

Nein, in mir fanden sie den falschen Ansprechpartner! Ich hatte kein Einsehen, warum eventuell ich als Kollateralschaden sinnlos ins Gras beißen sollte.

Und dieses Risiko auch noch freiwillig erhöhen? Noch verdoppeln? Nein Danke!

Die hätten sich ihren Mund fusselig reden können, bei mir hätte das nichts bewirkt.

Dass diese Gedanken richtig waren, hat sich auf tragischste Weise bei meinem zeitgleich eingezogenen Kollegen Fred Hartmeyer bewahrheitet. Fred starb sinnlos in diesem Trachtenverein! Sein Opa berichtete mir an Fredys Grab, dass seine wahrenTodesumstände von der NVA vertuscht wurden. Warum?

Da unsere Mitlehrlinge, die Fahrschüler aus dem Harz ihre Busse erreichen wollten, wurden diese besonders “behandelt”. Die ließ man vorerst warten und schmoren, wer von ihnen seinen nächsten Bus erreichen wollte, konnte das, allerdings erst nach seiner eigenhändigen Unterschrift. Und so sind einige dann 3 Jahre in “Hoffmanns Trachtenverein” aktiv gewesen, nur weil sie einmal dringend nach Hause wollten … Abwägen konnten die wenigsten Harzer …

(Bei Wikipedia könnte stehen: Der Harzer, ein kleines einfältiges Bergvolk!)

Als man mich fragte, habe ich freundlich verneint, aber betont, dass ich, wenn alles dort wirklich so schön ist, wie man es mir gerade beschreibt, umgehend verlängern werde …

Die Leute bekamen dann immer hochrote Köpfe und haben in Gedanken wohl das Erschießungskommando bestellt.

Ich sage IMMER, weil alle, die nicht sofort bereit waren länger zu dienen, noch öfters bestellt und belästigt wurden. So auch ich!

An einen Auftritt eines Zivilangestellten, welcher in unserem Viertel unterhalb der Schule in der Seminarstraße wohnte, kann ich mich noch genauestens erinnern:

Der Mann war anfänglich ganz zuvorkommend und höflich zu mir, wollte mich “harte Nuss” knacken. Er erzählte mir ausschweifend von seinem schönen, neu erworbenen Garten an der Hammwarte, und dass nun dreiste Diebe sein schönes Obst klauen. Was tun? Ganz einfach, sagte er, er habe sich einen neuen Zaun darum gebaut, nun würde weniger geklaut, aber ihm war das noch nicht sicher genug: “Und nun habe ich noch einen Schäferhund gekauft und nun klaut keiner mehr!”

“Und wenn Sie glauben, dass ich nun ihr Wachhund werde, dann haben Sie sich gewaltig geirrt!” war in etwa meine “höfliche” Absage.

Dann durfte ich auch ganz schnell gehen! Der tobte und brüllte urplötzlich, denn der liebe Volker verwandelte sich nun in seinem Gehirn in Sekundenschnelle zu einem “Subjekt, zu Abschaum und war eine Schande für unser sozialistisches Vaterland”, er riss die Zimmertür auf und schmiss mich raus.

Besser hätte es für mich nicht laufen können, von nun an hatte ich Ruhe ….

Ich rechne meiner Mutter hoch an, mich trotz ihrer politischen Einstellung diesbezüglich niemals bedrängt zu haben. Nicht ein einziges Mal fragte sie mich, ob ich meine NVA-Zeit verlängern möchte. Sicher bemerkte sie schon frühzeitig meine vom Vater übernommene pazifistische Einstellung, die ich nach seinen Kriegserlebnissen vermittelt bekam …

Auch mein Opa hat versäumt, mich zu umwerben, hat schlicht den Zeitpunkt verpasst. Vielleicht auch absichtlich?!

Genaues wusste man als jugendlicher Wehrpflichtiger nie, doch wurde gemunkelt, dass auch ich am 4. Mai 1970 einrücken muss. So haben viele Jugendliche “sicherheitshalber” oft schon vorbeugend bis März ihren gesamten Jahresurlaub von 15 Tagen genommen. Das waren zweieinhalb Wochen. 6 Tage wurden pro Woche gerechnet, obwohl auch in der DDR ab 1966 versuchsweise vierzehntägig und ab 1967 dann jeder Sonnabend arbeitsfrei war.

Urlaub der bereits genommen war, wurde bezahlt. Ab Einberufungstermin gab es aber logischer Weise nur noch anteilige Bezahlung. Also verplante auch ich schnellstens den ganzen Urlaub.

Volker in Moskau

Ich bin dann mit dem Reisebüro für 6 Tage nach Moskau geflogen, erlebte eine vollverpflegte und begleitete Städtereise. Zugern wäre ich nach Paris oder London geflogen, oder aber “nur” in den bundesdeutschen Westen. Leider aber war Moskau zu diesem Zeitpunkt das einzig verfügbare Reiseziel. Es war dennoch eine interessante Reise …

Noch in Schönefeld wurde die gesamte Reisegruppe vor dem Einchecken “vergattert”. Die erste Ansage unserer Reiseleiterin lautete: “Jeder Einzelne von Ihnen ist ein Botschafter unserer Deutschen Demokratischen Republik! Vergessen Sie das nie!”

Die “Marschrichtung” war also den doofen Reisenden vorgegeben. Heute weiß man, dass solche Reisen immer auch mit Horchern durchsetzt waren.

Von einem meiner Harzgeröder Bekannten wurde sogar das Gespräch mit seinem 5-jährigen Sohn auf dem Roten Platz akribisch aufgezeichnet, allerdings fand dessen Reise zu anderer Zeit statt. Ich habe die Kopien seiner Stasiakte einsehen dürfen. Unglaublich! Da hatte eine Reiseleiterin aus Ballenstedt spitze Ohren …

Meine Sechs-Tage-Reise war dennoch sehr interessant. Im Mausoleum auf dem Roten Platz habe ich so den einbalsamierten Genossen Lenin unmittelbar vor seinem 100. Geburtstag beäugt. Gut gehalten - trotzdem tot! Makaberes Schauspiel!

Borodino-Schlacht (Quelle)

Unweit des RGW-Hauptsitzes (Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe) wurde unsere Reisegruppe in ein Museum geführt, einige Gemälde hingen da rum, sonst nichts. Mittig eine steil aufragende Treppe, die sollten wir erklimmen. Oben angekommen hat es mir und wohl auch den meisten Anderen den Atem verschlagen. Wir standen mitten auf einem Hügel, unweit des Dorfes Borodino, 120 km westlich Moskaus. Um uns rum tobte die Schlacht von Borodino.

Hier wurde Napoleon am 7. September 1812 die empfindliche Niederlage erteilt. Binnen eines Tages starben auf dem Schlachtfeld 30.000 Franzosen und 50.000 Russen. Wir standen in einem Panoramamuseum.

Wie in einem Kuppelkino fühlt man sich in dem Rundbau, einbezogen in die Schlacht, die auf einem Monumentalgemälde (115 m lang und 15 m hoch) des Malers Roubaud (russ. Rubo) dargestellt ist. Ein wunderbar dargestelltes Riesengemälde, aber letztendlich mit darauf gemaltem tausendfachen blutigem Leid. Obwohl 158 Jahre vergangen waren, offenbarte es mir doch meine direkte Zukunft. Auch mir stand die Wehrzeit und deren Sinnlosigkeit direkt vor Augen …

Unsere Reisegruppe wohnte in Ostankino, also etwa 30 km vom Zentrum entfernt, dort wo der Fernsehturm steht, nahe der ewigen All-Unions-Ausstellung, aber noch immer inmitten dieser riesigen Stadt.

Hier lernte ich die Mitreisende ledige Bärbel Sonderhoff, eine Goldfischzucht- Laborantin aus Dresden kennen. Als ihr in der Kamera der Film riss, habe ich ihr, man wird es kaum glauben, gedolmetscht. Mein armseliges Russisch reichte zumindest zum Lesen der U-Bahnstationen und bei der Suche nach einem Fotolabor. Dort zogen wir dann in völliger Dunkelheit ihre Urlaubs-Negative aus der Kamera und retteten so alle ORWO-Aufnahmen.

Nach der Reise haben wir uns noch gegenseitig besucht, später im Winter 1974 waren Reimonde und ich gar zusammen mit ihr in Dresden unterwegs, und haben auch in der damals bekannten Studentenkneipe “Secundogenitur”, seitlich unter den Brühlschen Terrassen, wohl in den Kasematten, gesessen und unsere Freundschaft feucht-fröhlich gepflegt. Hatten auch später ewig brieflichen Kontakt …

Ich habe dann ab 4. Mai erwartungsgemäß und zwangsverordnet meine “Vaterländische Pflicht” in “nur” eineinhalb Jahren als Baupionier in Torgau/Neiden abgerissen. Habe 1970/71 zwei wunderschöne warme Sommer verplempern müssen und keinen Rätzsee und keine nackten Freundinnen gesehen. Die Torgauerinnen waren aber auch nicht alle hässlich! ;)

Doch selbst das waren schon 18 Monate zu viel, das war mir gestohlene Lebenszeit! Die Seelenfänger hatten durch die Bank gelogen, denn es war niemals so schön, wie beschrieben.

Nachschlag? Nein danke. Man sollte auch die zuvor von “mir” abgeleisteten 18 Jahre amerikanische Kriegsgefangenschaft im Elsass berücksichtigen, die ich durch die immer und immer wiederkehrenden Erzählungen meines Vaters bereits durchlebt habe.

Spatensoldaten

Dass aber auch angehende Atheisten in der DDR den Waffendienst gänzlich verweigern konnten war mir da noch nicht bekannt. Wurde auch niemals lauthals propagiert. Ich war damals noch der festen Meinung, dieses Privileg hätten nur die gottesgläubigen jungen Männer gehabt. Und dazu fehlte mir die christliche Taufe. Schade!

Das Leid der Waffendienst-Verweigerer, der so genannten Spatensoldaten, wurde auch erst nach 1990 publiziert. Das Internet tat ein Übriges. Nach unzähligen Abenden meines Beschäftigens mit diesen fremden Schicksalen reifte die Idee, auch meine Armeezeit als Baupionier mit Waffe, die dennoch erschreckende Parallelen zu den Spatensoldaten aufweist, auch im Wort festzuhalten. Und Schreiben ist wegen noch möglicher Korrekturen immer besser, als gleich ungestüm drauf los zu plappern.

Denn: Wie soll ich wissen was ich sage, bevor ich höre was ich denke? Alles klar?

Beim Schreiben aber kann ich notfalls die Relevanz des Wortes nutzen, indem ich vorne nichts sage und hinten alles offen lasse … ;)

Ebenso bin ich heute bei jeder Zeile froh, alles Erlebte unverblümt auflisten zu können. Zu DDR-Zeiten wäre alles durch meine eigene Zensur verklausuliert worden.

Der geneigte Leser hatte dann die unausgesprochene Aufgabe, zwischen den Zeilen zu lesen. Und so wurden durch unterschiedlichste Lesart viele Begebenheiten ungewollt verfälscht.

Das kann in einem freien Land und ehrlichen objektiven Autoren nie mehr passieren!