All das habe ich bis dato ertragen, aus blanker loyaler Achtung, denn sie bleibt ja meine Mutter, ob mir das nun gefällt oder nicht!
Doch jetzt war es genug!
Ich wollte, ja ich musste nun dagegen etwas unternehmen, der Siedepunkt war für mich lange erreicht. Es war für mich an der Zeit, auszuziehen, endlich das Weite zu suchen. Mein Leben leben …
Doch das war nicht so einfach getan wie heute. Es gab keinen Wohnraum, alles war in der DDR kontingentiert. Alles war Mangelware.
Ich wurde in der staatlichen Wohnraumlenkung im Rathaus vorstellig und als Zimmersuchender auch sofort erfasst. Mir wurde dort allerdings erörtert, dass mir maximal ein Zimmer zusteht. Das besagte das DDR-Wohnraum-Belegungs-Gesetz. Ich bekam die Wartenummer 101 in einer sehr langen Warteliste.
Diese hatte Walter Ulbricht, Honeckers Vorgänger, verbrochen. Der erließ nämlich vor meinem Antrag, also 1971, noch kurz bevor er von Honecker gestürzt wurde, eine Generalamnestie für kleinere Kriminelle. Dadurch wurde auch das Thalenser Gefängnis weit geöffnet. Jedem Insassen stand sofort eigener Wohnraum zu. Die Knastbrüder hatten Vorrang. In Thale wurde sogar das, dem Pförtner 2 des EHW gegenüberstehende Hotel, Ecke Karl-Marx-Straße, kurzerhand komplett geschlossen, um zweckentfremdend alle “Knackis” unter zu bekommen.
So rückte mein Traum von der eigenen Selbständigkeit momentan in unerreichbare Ferne!
Der Staat war abartig. Wenn du ehrlich arbeitest, bekommst du keine Wohnung. Bist du aber kriminell, klappt es sofort. Die DDR war krank, besonders im Kopf!
Doch der Wandel wurde noch 1972 eingeleitet …
Im Frühjahr 1972 begann ich im Wohnungsbaukombinat meine kostenfreie Meister-Ausbildung, die bis in den Herbst 1974 dauerte. Der Unterricht fand in den Abendstunden und an allen Sonnabenden statt.
Zur gleichen Zeit arbeitete ich in der Thalenser Steinbachstraße auf der Baustelle (heute Möbel-Müller). Wir bauten auch innerhalb Pförtner 2 die Hallen B und A. (Behälter-u. Apparatebau) Zeitgleich wurde ein tschechischer Eisenbahnwaggon falsch abgestellt. Der wurde dann geplündert. Der war, statt mit Baumaterial beladen, voller Kästen “Staropramen-Pils”. Besonders Handwerker haben sich bedient und gesoffen. Da lagen gar manche zur Tarnung unter der Werkstraße in den Versorgungsschächten. Der Werkschutz hat dann dem fröhlichen Treiben ein Ende bereitet. Die kläglichen Reste, nicht mal die halbe Wagenladung, wurden im Werks-Konsum (betriebseigene Verkaufstelle) am Pförtner teuer verkauft …
Am 11.11.1972, zum Karnevalsbeginn, brachte meine Schwester ihre “Austauschkollegin” aus der PGH Rundfunk Gernrode mit zu uns in die Maxim-Gorki-Straße 2.
Das war kein Faschingsscherz!
Ich saß gerade in meinem ollen aber urgemütlichen Trainingsanzug, gleiches Modell wie bei der Armee, denn andere Ausführungen gab es damals nicht, vorm Fernseher. Da ging die Stubentür auf und Schwesters “Mitbringsel” stand unvermittelt im Türrahmen. Sie reichte fast bis an den Türsturz.
Als Entschuldigung ist aber auch mein ungünstiger Blickwinkel aus einem recht niedrigen Sessel strafmildernd zu berücksichtigen. ;)
Oh Gott! Das war also Reimonde, mit der ich noch freiwillig mein ganzes Leben verbringen würde! (Ich hatte mir bis dahin immer eine kürzere Schwarzhaarige vorgestellt, die zu mir empor schauen muss, ein Leben lang wohlgemerkt!)
So etwas nennt man aber Illusionen …
Diesen Abend jedoch zeigte ich erstmal offiziell kein Interesse. Die Mädels gingen allein abends ins “Café Heine”, am Mathildenbrunnen, sie wollten tanzen. Eine halbe Stunde später bin ich ihnen heimlich hinterher geschlichen, wollte auch noch in diesen noblen Schuppen, doch hatte dann bei der Gesichtskontrolle kläglich versagt, keinen Einlass erhalten. Da versperrte mir eine “uralte” verlebte Türsteherin den Weg. Die war bestimmt schon 50 Jahre auf dieser Welt, und obendrein vertrocknet, grottenhässlich, aber geschminkt. Stand da in einem dunklen Spitzenunterrock, der wohl ihr Abendkleid ersetzen sollte, und laberte mich voll, dass eben nicht jeder ohne Voranmeldung eingelassen wird. Ich hätte die Alte erwürgen können!
Dumm gelaufen, sag ich heute …
Andererseits, hätte ich diesen Abend schon mit Reimonde tanzen können und dabei versehentlich ihre Füße zertreten, wäre vielleicht nie etwas aus uns geworden …
Am nächsten Tag war ich jedenfalls vorsichtiger. Bevor Reimonde ihren Bus bestieg, bin ich gleich mit in die Milchbar in der Bockstraße - Ecke Pölle gegangen.
Diese Entscheidung hat mein ganzes Leben auf den Kopf gestellt!
Die Investition in eine Runde Eisbecher hat sich bis heute gerechnet … :)
Denn bereits am Bus, als Reimonde nochmal aus dem Fenster schaute, hat es bei uns beiden gleichzeitig gefunkt …
Charly S. stieg in den gleichem Bus, um in der Rammelburg nahe der Harzhochstraße bei Friesdorf eine Rehabilitationskur zu beginnen, um seine 1970 erlittenen Unfallfolgen zu mildern. Der nahm nun mit Reimonde während der Fahrt Kontakt auf und erzählte ihr, was für ein toller Kerl ich doch sei, er leistete gute Vorarbeit …
In der folgenden Woche arbeiteten meine Schwester und Bärbel in Gernrode im Austausch, denn die Quedlinburger Lehrlinge sollten nicht verblöden und auch mal einen richtigen Staßfurter Fernseher sehen. Denn im “VEB Sternradio” in der Quedlinburger Pölkenstraße wurden nur Radios und Rekorder und viel Ausschuss produziert …
Die Mädchen verabredeten nun fürs kommende Wochenende eine Party in Harzgerode. Jeden Tag erhielt meine Schwester von mir eine andere Auskunft, ob ich nun mitfahren werde oder nicht. Reimonde war daraufhin wohl sehr hibbelich … Mein Ziel war erreicht, sie war “wild” auf mich!
Das fand ich geil, wobei das Wort damals eine ganz andere Bedeutung hatte …
Am 18.11.1972 schlugen wir dann in Harzgerode in der August-Wolf-Straße 36 auf. Hier wohnte Reimonde bei ihrer “Sprich-Oma”, der Witwe Wolf. Omas becircen konnte ich als gelernter Enkel schon immer. Also:
Erst ein paar Blümchen für die Oma Wolf, und schon durften wir alle bei ihr, brauchten aber nicht mit ihr, schlafen. Das waren wir Geschwister und Bärbel aus Quedlinburg, samt Rüdiger aus Stecklenberg. Zwei Funkmechaniker-Lehrlinge und zwei Rundfunk- und Fernsehmechaniker-Lehrlinge sowie ein gestandener Maurergeselle.
Bärbel hatte ich zuvor auch schon mal probeweise ausgeführt, aber kläglich versagt! Denn ich bin im Kino neben ihr eingeschlafen; statt zu fummeln übermannte mich die Müdigkeit …
Diesmal würde alles besser laufen!
Das Wichtigste für mich war erst einmal das Haus zu besichtigen. Elise Wolf war sofort vom Charmeur begeistert. Sie kam mir bei meiner Besichtigungstour gleich in den Garten nachgelaufen:
“Volker, in meinem Haus fehlt ein richtiger Handwerker und Reimonde braucht eine feste Hand!”
Das war der erste Satz den sie mit mir wechselte und der wohl klügste. Wie recht sie doch hatte … Selbst ich nahm manchmal ältere Frauen ernst.
Das Dach war dicht, und das “bisschen” an Ausbauarbeiten würde schon von mir erledigt …
Und die feste Hand, na ja, Reimonde hat auch so meistens gehört. ;)
Nun folgte erstmal eine turbulente Nacht, mit Flower-Power-Schmusemusik, etwas Alkohol und fürchterlicher, aber angenehmer Enge.
Am Sonntagabend fuhren Bärbel und Rüdiger wieder nach Hause. Meine Schwester fuhr erst am folgenden Montagmorgen arbeiten und kam Montagnachmittag von der Arbeit in Quedlinburg an. Ich aber war erstmals wieder am Mittwoch bei meinen Eltern und eröffnete ihnen sogleich, dass ich nach Harzgerode übersiedeln werde.
Da erst erfuhren meine Eltern von mir, dass ich mich bereits 6 Monate zuvor als Wohnungssuchender hatte registrieren lassen. Das war wohl ein Schock für meine lieben Eltern, das sehe ich heute auch so.
Damals aber war mein Tun für mich logisch und absolut unausweichlich.