Zweieinhalb Jahre nach meiner ersten Reise, nach nunmehr 4 Westreisen während zwei weiteren Jahren in Selbständigkeit, öffneten sich in den Herbstwirren am 09.11.1989 dank SED-Schussel Schabowski alle Schlagbäume völlig überraschend und dann noch einen Tag früher als gewollt.
Die verhasste Mauer ist in Folge dessen bald eingerissen worden!
Am 11.11.1989 kletterten erste mutige Bürger aus Ost und West in Stapelburg ohne jede Erlaubnis auf die Beton-Grenzmauern. Ich hätte das nie getan, denn bis dahin wurde das mit tödlichen Schüssen geahndet. Und einseitig belichteten Militärs habe ich noch nie getraut.
Doch wurde die Grenzöffnung am 11.11.1989, 17:00 Uhr, zum Glück auch hier friedlich erzwungen.
Da schlürfte der niedersächsische Ministerpräsident Albrecht schon sein erstes Ostbier “widerrechtlich” in Stapelburg. Er hatte keinerlei Einreisepapiere. ;)
Über die Nachrichtensendungen erfuhren wir davon. Über Nacht noch wurden von westlicher Seite zwei Holzstege und eine Ponton-Überquerung über die “Ecker” gebaut.
Gut, dass der kleine Harzfluss zur Hälfte im Westen lag. Wäre der Osten allein zuständig gewesen, hätte niemals so schnell eine Querung errichtet werden können. Denn bei uns fehlte es doch an Allem, auch am Nötigsten.
So fuhren wir 4 Zottmänner frühmorgens am 12.11.1989 nach Stapelburg. Abertausende taten das Selbe. Darum war schon 2 km vorher, auf einem zum Parkplatz degradierten Acker, im Sperrgebiet Schluss. Nie wieder sahen wir so viele geparkte PKW auf den Äckern im weiten Harzvorland. Egal wohin man nord/nordöstlich auch sah, überall standen Autos. Tausende und abertausende.
Die paar fehlenden Kilometer liefen wir gerne. Menschenmassen bewegten sich jetzt erstmals seit mindestens 28 Jahren wieder im Sperrgebiet bis an den Todesstreifen und erlebten dort voller Ungeduld die Öffnung eines neuen Grenzüberganges im Harz.
Ein unbeschreiblicher historischer Moment!
Wir waren dabei!
Ein ganzes Volk war in kollektiver Trance …
Mein ganzes bisheriges Leben lang habe ich mir diesen Augenblick ausgemalt …
Witze kursierten diesbezüglich bereits seit Jahren in der DDR. Was solle man wohl tun, wenn die Grenze unvermittelt geöffnet wird? Antwort: Auf einen Baum klettern, um nicht totgetreten zu werden.
So war es dann auch fast. Nur die Bäume fehlten … zumindest die letzten 100 Meter bis zum Metallgitterzaun.
So viele Tränen, wie zu all den einzelnen Grenzöffnungen innerhalb weniger Tage vergossen wurden hatte Deutschland seit dem 2. Weltkrieg nicht mehr gesehen. Doch diesmal waren es überwiegend Freudentränen. Tränen angestauter Wut und der grenzenlosen Erlösung.
Allein dieser Anblick hätte Leuten wie Honecker und Krenz die Schamesröte aufsteigen lassen müssen. Spätestens jetzt, wo sie “ihres” Volkes wirklichen Willen sahen, hätten sie einsehen müssen, wie verbrecherisch und falsch ihr Tun über Jahrzehnte war.
Für den uneinsichtigen Krenz sind wir aber heute noch konterrevolutionäres Pack!
Er hätte wohl lieber sein Volk gemeuchelt, als die DDR aufzugeben, so wie er die rund 3.000 Toten in China auf dem Tian’anmen-Platz, dem “Platz des himmlischen Friedens” 5 Monate zuvor noch gut geheißen hatte. Das ist die durch Fernsehberichte belegte Einstellung von Krenz gewesen, die wird das denkende Volk auch nie vergessen!
Unsere beiden Kinder sollten hier, an diesem historischen Ereignis unbedingt teilhaben!
Obwohl bereits provisorisch seit dem Abend des Vortages Autos und Menschen durchgelassen wurden, wurde just als wir an der Grenze ankamen ein breiterer neuer Durchlass geschaffen.
Endlich wurde in unserem Beisein das letzte Stück Streckmetallzaun zerschnitten und bei Seite gezogen. Schon schoben sich etwa 7.000 wartende, sich stauende Ostdeutsche im Glückstaumel Richtung Eckertal.
Das waren für mich Glücksmomente wie nie zuvor erlebt.
Für mich hatte diese Grenzquerung aber auch groteske Züge. Unbestritten gut gemeint, verschenkten unmittelbar an der Ecker, wie anderen Ortes auch, Bundesbürger an jeden der wollte Kaffee und Bananen. Und fast jeder Ostdeutsche griff danach, reckte seine Arme, gerade so wie ausgehungert. Für mich das typische Zoobild. Das Gitter geht auf und alle Affen ließen sich füttern … Da hatte manch Ostdeutscher seine Würde am heimischen Frühstückstisch zurückgelassen.
Unsere Kinder durften nun gemeinsam mit uns in einen der vielen kostenlos bereit gestellten Busse steigen. Eine logistische Meisterleistung. Wir alle wurden ins 6 km entfernte Bad Harzburg gefahren. Bad Harzburg hat in seiner Geschichte wohl noch nie solch einen Ansturm von Menschenmassen erlebt. Ob das wohl 200.000 oder gar noch mehr waren, ich weiß es nicht. Offizielle Zahlen sprechen von 300.000 Besuchern an den ersten beiden Tagen.
Die folgende Woche habe ich nicht arbeiten können. Das war “meine” Woche!
Ich bin einige Male entlang der Grenze zwischen Tanne und Elend rumgekurft. Habe auch noch scharfe Hunde an der Laufleine entlang der Grenze in deren Laufkorridoren rennen sehen. Das war hochgradige Tierquälerei. Die Schäferhunde waren bedauernswerte gestörte Tiere. Am 13. und 14.11.89 liefen die noch.
Danach hatte auch dort der Grenzzaun sein Grauen verloren.
An der Einmündung zur heutigen B 27 ließ ich jeweils meinen “B1000” stehen. Nahm dann mein Fahrrad und radelte auf der jetzigen B 27, die damals noch die stillgelegte, schottrige und gesperrte F 27 war, die etwa 5 km bis Braunlage. Hier war der Zaun auch am Sonntag zerschnitten worden.
Nun “tummelten” sich hier einige verstörte höhere Grenzoffiziere. Der DDR-Zoll war bereits dabei, Schotterfundamente für 2 Holzbaracken zu planieren. Die glaubten damals wirklich, dass wohl ein reger Grenzverkehr entsteht, sonst aber alles beim Alten bleibt. Das waren, wie sich schnell zeigte, unsinnige, unnötige Arbeiten.
Auf westdeutscher Seite ging es intelligenter zu.
Hier lag sicher für diesen “Tag X” schon lange ein Arbeitspapier im Schreibtisch bereit. Es waren bereits zukunftsweisende, geplante und vorausschauende Arbeiten im Gange.
Ich sah Horden von Jugendlichen, die von der Grenze bis zum Ortseingang Braunlages beiderseits der Asphaltstraße in “Schützenkette” den Wald bis in etwa 50 m Tiefe säuberten. Hier wurde alles Totholz raus geräumt. War ja ab sofort kein Zonenrand mehr. Sollte also auch touristisch einladend und schön wirken, vom ersten Tag an. Ebenso begannen 2 Tage nach Öffnung ordentliche Brückenbauarbeiten über den Grenzbach, die Bremke, die etwas weiter talwärts in die Warme Bode fließt.
Ich aber habe mir in aller Ruhe und größter Freude jeden Winkel Braunlages angesehen. Jetzt wurde meine über Jahrzehnte gestaute Neugier gestillt! Hier traf ich auch den glückstaumelnden Hauptbuchhalter aus meinem ehemaligen Betrieb.
Überhaupt hat der Harz nie wieder gleichzeitig so viele glücklich strahlende Menschen gesehen, denn:
Ab sofort brauchte keiner mehr Bittstellen und oft genug erfolglos hoffen, nie wieder!
Das größte Straflager der Menschheitsgeschichte hatte plötzlich offene Türen …
Unsere Claudia und unser Carlo würden nun schon in ihrer frühen Jugend weltweit reisen können.
Für mich fast unbegreiflich in diesem Moment.
(Carlo hatte bald seine Mittlere Reife, den 10.-Klasse-Abschluss, in der Tasche und durfte aufgrund bester Noten einige Wochen eher die Schule verlassen, denn er besuchte dann schon kurz vor und während der kommenden Sommerferien 1990 in Begleitung meiner Eltern Karlo in Calgary/Kanada. Die gesamten Reisekosten für alle drei spendierte mein Cousin Karlo.)
Die DDR hauchte aus, nur eben noch schneller als wir alle denken konnten.
Die Zeit der DDR-Demütigungen war vorbei, ist Geschichte. Die Meisten hatten nun recht bald was sie wollten:
- Das Volk seine wiedererlangte Freiheit samt aufrechtem Gang und
- einige SED- und Stasi-Gangster einen Großteil des gesamten bis heute verschwundenen DDR-Barvermögens …
Und Honecker war der letzte DDR-Flüchtling.
Besser kann Geschichte nicht geschrieben werden!
Dieses ganze Geschichtskapitel dauerte von der Grenzöffnung bis zum 3. Oktober 1990, als die DDR aufhörte zu existieren, als auch der Osten ein bisschen Westen wurde!
Diese Zeitspanne wurde mit vorrückendem Datum immer wilder und ungestümer. Polizisten wussten nicht, ob sie der bundesdeutsche Staat übernimmt. Sie waren größtenteils derart verunsichert, trauten sich öffentlich meist nicht mehr die DDR-Leute zu maßregeln. Hatten schlichtweg Angst!
Daraus ergab sich binnen Wochen ein Vakuum. Es entstand ein rechtsfreier Raum.
Der wilde Osten war geboren! So gab es mehrmals am Wegehaus Bungalow-Brandstiftungen. Trotz benannter Verdächtigen gab es aber keinerlei Ermittlungen. Alte “Seilschaften” wussten diese zu verhindern.
Ebenso ging das große Staunen los, denn einige bisher undurchsichtige zwielichtige Gestalten schmissen auf einem Mal mit gewechselten neuen Geldern um sich, kauften Häuser, Äcker, Wälder. Und niemand ermittelte oder hinterfragte …
Es sind in dieser Zeit Einige zu Reichtum gekommen. Arbeiter oder Bauern aber sicher nicht!
Goldgräberstimmung machte sich auch bei vielen von uns Handwerkern breit. WIR versuchten es aber mit eigener harter Arbeit. Ich kann heute noch in jeden Spiegel sehen …
Doch DDR-Gesetzte sollten nicht mehr gelten, Bundesdeutsche gab es noch nicht.
Mutige machten trotz noch existierender Ostmark erste Gemüse- oder Bierhandlungen auf, handelten mit Billigware aus dem Westen oder aber verschrieben sich der schnellen DM und wurden Autohändler.
Die Beitrittsverhandlungen der DDR erweckten zu allererst Begehrlichkeiten nach Westgeld. Denn dieses würde uns bald total beherrschen. Und so kam es auch!
Mit dem großen Geldtausch im Juli 1990 wurden auch aus meinen noch erlösten 9.000.- Ostmark für den Transporter “B1000” bald 4.500.- DM.
Doch auch ich hatte wieder einmal Glück…
Dieses Geld war über, wurde für einen neuen Transporter nicht mehr gebraucht!
Denn: Auf einer Berufsgruppen-Versammlung (ostdeutsche Name für Innung) hörten wir bereits bestehenden selbständigen Handwerksmeister Unglaubliches …
Durch eine herausragende partnerschaftliche Unterstützung wollte die Handwerkskammer Hannover allen bereits 1989 bestehenden Handwerksbetrieben im Kreis Quedlinburg auf Antrag einen Transporter oder Ähnliches schenken, im Gesamtwert bis maximal je 50.000.- Ostmark.
Der Westen ließ unser DDR-Geld, was drüben nun durch die DDR-Ausflügler in Massen ankam noch einmal zu uns Handwerkern “laufen”.
Ich bin bescheiden geblieben und ließ mich “nur” mit einem “Fiat Fiorino” für runde 34.000.- Ostmark beschenken. Den bezahlte ich mit Ostgeld, welches aber erst am letzten Tag aus Niedersachsen vor der Währungsumstellung nachmittags auf mein Konto gespendet wurde.
Meine empfangenen Spendengelder überwies ich noch abends am gleichen Tag Herrn M. in der Quedlinburger Wallstraße. Der erhielt nun in wenigen Stunden mindestens 30 Mal solche Riesensummen. All das viele Geld wurde zur Währungsumstellung auf dessen Konto offiziell in DM getauscht. Immer schön 1:2. Für einige Stunden war M. wohl Ostmark-Millionär!
So hatte nun Herr M. keine Probleme mehr, alle Autos zu bezahlen und zu überführen. Ein großer Stein ist ihm an diesem Tag vom Herzen gefallen. Bei uns Autoempfängern dauerte die vage Zitterpartie noch einige Tage, teils Wochen länger.
So wurden nun aus “meinen” Geldern 17.000.- DM, die wiederum über M. in den großen westdeutschen Wirtschaftskreislauf flossen. Vielen Dank, verehrte Handwerkskammer Hannover, liebe Spender!
Der Quedlinburger Auto-Wäscher M. avancierte in 3 Monaten bis zur Währungsumstellung zum “millionenschweren” Autohändler. Ohne Eigenkapital!
Der organisierte das Besorgen der neuen Fiorinos und anderer Lieferwagen. Die holte er auf eigenes Risiko aus Süddeutschland und teilweise sogar aus Italien. Geschätzte 30 Handwerker belieferte der nun. Ohne jeden eigenen Pfennig Geld. Nur mit dem Versprechen der Niedersachsen ausgerüstet, die Ware zu bezahlen. Doch das Risiko trug er für alle zuvor im guten Glauben erteilten Bestellungen der etwa 30 Fahrzeuge. Doch alles ging gut. Der Mann hat wohl 3 Monate vor Aufregung kein Auge zu bekommen. Das war rückblickend eine einmalige und aufregende Zeit.
Ganz im Gegensatz zu den großzügigen Hilfen empfanden wir DDR-Handwerksmeister aber die Nicht-Anerkennung unserer Berufsabschlüsse als demütigend. So erging es auch vielen anderen Berufsgruppen. Trotz gewisser Bestandsschutzregeln wurden wir sehr bald genötigt, unsere Meisterabschlüsse durch neu zu belegende 3-Monats-Lehrgänge, zum Beispiel in Pädagogik und allerlei andere Prüfungen erneut nachzuweisen. Nur mit den neuen bundesdeutschen Stempeln sollten unsere Firmen weiterhin Bestand haben. Hier ging es aber offenbar weniger um unseren Bestand, als viel mehr um Geldmacherei. Eine Farce! Knapp 500.- DM wurden mir allein abverlangt. Für nichts! Monat für Monat warteten wir rund 30 Personen nun, unsere neuen bestandenen und bezahlten Abschlüsse übergeben zu bekommen. Nichts passierte!
3 Monate haben wir nochmals abends die Schulbank in Thale gedrückt und auch alle die Prüfungen durchgestanden. Erst als Einzelne mit Klagen drohten, tat sich etwas. Zumindest habe ich dann einen DIN-A5 großen Pappschnipsel, nochmals auf DIN-A6 gefaltet, erhalten, der meinen neuerlichen Abschluss zum Maurermeister dokumentiert.
Den Tischlermeistern wurden gar neuerliche Meisterstücke abverlangt. Schlicht entwürdigend. Das war das Werk unserer “neuen” Handwerkskammer Halle/ Magdeburg. Uns allen wurde schriftlich erörtert, dass wir demnächst zu einer würdevollen Feier zur Schmuckblatt-Meisterbrief-Übergabe eingeladen werden. “Demnächst” hat aber in den letzten 20 Jahren nie stattgefunden.
Ergo: Es ging nur darum, uns abzuzocken …
Es gab aber auch tausende kleinere Glücksmomente in diesen unruhigen Zeiten.
Schon kurz nach der DM-Einführung wurden viele Betriebe aufgelöst oder “abgewickelt”, wie es geschmacklos die vom Staat eingesetzte Treuhandanstalt bezeichnete. Dadurch bekam auch ich eines Tages einen Wink von einem Plastopack-Meister und holte mir schon Anfang 1990 zwei Transporterladungen mit kleinteiligen weißen Möbelplatten. Er hatte auf Anweisung das Lager Mittelstraße in Harzgerode zu räumen, egal wie, nur leer sollte es werden. Ich freute mich, dass er noch 5 Jahre nach meinem Ausscheiden bei Plastopack an mich dachte und auch mir alles kostenlos überließ. Auf diese Weise erhielt mein Büro nun ein einfaches aber feines Ordnerregal. Fast baugleich sahen nun auch unsere Kellerregale aus.
In dieser Zeit arbeitete ich fleißig meine immer noch lange Warteliste der Schornsteinreparaturen ab. Nahm aber keine neuen Schornsteinkunden mehr an.
So habe ich im Wendejahr noch alle meine DDR-Versprechungen erfüllt, bis auf eine. Die vom borniert gehässigen Polizisten T..
An eine Baustelle will ich noch erinnern, denn das dort Erlebte zeigte eindeutig, wie bescheiden die Versorgung zu letzt in der DDR war. Ich arbeitete bei einer Frau Richter in der heutigen XY-Straße. Dort wurde hofseitig ein Anbau realisiert. Am Montag nach der Währungsumstellung gab es in allen Geschäften schlagartig nur noch Westware. Und so kam das alte Mütterchen der Frau Richter von ihrem ersten “West”-Einkauf zurück.
In beiden Händen trug sie schwere dickbäuchige Einkaufsbeutel und war nur noch am Weinen. Völlig aufgelöst kam sie zurück. Ihre Tochter nahm ihr den Einkauf ab und mahnte die erschöpfte alte Frau, nicht so schwer zu tragen und hinterfragte deren Tränen. Die Beutel waren voller Gläser mit feinsten Erbsen. Und ihre Tränen waren rührseelige Freudentränen und Tränen der Fassungslosigkeit. Jahre schon hatte sie keine Erbsen mehr ergattert, fast vergessen wie diese aussehen und wollte darum sofort nochmal bis in die Augustenstraße, ins kleine Lebensmittelgeschäft gegenüber dem Friedhof (heute Blumen-Stieglitz), zum Erbsen-“Hamstern”.
“Wer weiß, wann’s wieder welche gibt?” – “Mutti, das brauchst du nicht, ab jetzt wird es immer Erbsen geben” versuchte Frau Richter zu trösten und zu erklären …
Es war nach entbehrungsreichen Jahren auch schwer nachzuvollziehen: Schlagartig gab es mehrere Hartkäsesorten gleichzeitig, oder einfach und ergreifend wieder Waffeln zu kaufen. Unsere Kinder kannten die nur noch vom Hörensagen!
Wenn ich wollte, könnte ich mir sofort 1.000 Rollen Klopapier kaufen. Doch wer will das schon. (Nur, zu DDR-Zeiten wurde dieses teilweise sogar als Tauschobjekt aus Berlin mitgebracht.)
Ab sofort erschlug einen die freie Marktwirtschaft auch im Osten.
Und schon gab es die ersten Nörgler! Die regte nun auf, alle Waren im Angebot zu haben, aber nicht genug Geld zu besitzen. Irre.
Das war wohl auch immer schon im Westen so, dass es alles zu kaufen gab, aber nicht jeder genügend Barvermögen hat. Doch das ist gesund. Man spart eben, bis Wünsche realisiert werden können – dachten wir damals …
Schlimmer war es doch bisher. Oft hätte man finanziell all seine bescheidenen Wünsche bestreiten können, doch es fehlte an simpelsten Waren, ebenso an allen höherwertigen Konsumgütern.
Man hatte nur Geld, sonst nichts. Es gab nicht mal mehr einen Hammer zu kaufen, mit dem man sich seine Wünsche hätte aus dem Kopf schlagen können …
In diesen unruhigen umwälzenden Zeiten wurde der Einigungsvertrag “gestrickt”. Aus heutiger Sicht, mit 20 Jahren “Westerfahrung” habe ich genug begriffen, um festzustellen, dass dabei eine “heiße Nadel” verwendet wurde. Nicht eine einzige sinnvolle DDR-Errungenschaft wurde übernommen. Dem bundesdeutschen Haushalt und dem seiner Krankenkassen hätte die deutschlandweite Übernahme der Struktur der DDR-Polikliniken bereits viele Milliarden an DM und Euro an Einsparungen gebracht. Hier waren alle ärztlichen Fachbereiche in einem Haus anzutreffen. So wurde beispielsweise doppeltes, also unnötiges Röntgen vermieden. Blutwerte wurden nur einmal bestimmt, und so weiter …
Ebenso war unser Sozialversicherungs-Ausweis das beste was es je gab. Hierin standen unsere Arbeitgeber, genauso sämtliche Rentenansprüche, Urlaubstage und alle Krankheiten. Wer heute Rentenansprüche geltend machen will, muss zuvor Tonnen von Papier bewältigen. Man hätte wahrlich auf einigen, zugegebener Maßen wenigen Gebieten, von der DDR lernen können. Diese gravierenden Versäumnisse baden nun alle deutschen Steuerzahler aus…
In den 9 Monaten rechtsfreier Zeit haben wir den größten Coup gelandet. Wir bauten 1990 unsere 15 Jahre alte massive Gartenlaube zu einer Einraum-Wohnung für eine andere Frau Richter um. Für meine gute Schwiegermutter.
(Es ist nur ein Gerücht, dass alle Schwiegermütter schlechte Menschen sind.)
Bauholz bekam ich mit einem Mal, ohne Freigabe von der Rinkemühle Silberhütte. Denen versprach ich lediglich, alles sofort in West nach der bevorstehenden Währungsumstellung zu bezahlen. Wir bauten neueste DDR-Gamat-Außenwandheizer ein. Doch für die musste ich in Halle/Saale bei der Baustoffversorgung noch tüchtig schmieren, mit Geld, Sekt und Westkaffee, denn die erwarb ich noch Ende 1989.
Wir beantragten mehrere Förderungen und das Verrückteste, wir bekamen alles bewilligt. Gefördert wurden neue Fenster und die Wohnungstür, ebenso die Wärmedämmung außen und im Dachbereich – auch die Sanitär-Installation und die Heizung.
Kurz gesagt, gab es rund 20 % aller Baukosten zurück.
Und der noch amtierende SED-Bürgermeister freute sich in alter Manier, dass Zottmanns Wohnraum schafften, begriff aber nicht, dass wir gleichzeitig für die Neuzeit ersten Leerstand in den städtischen Wohnblöcken produzierten.
Als dem ein Licht aufging war’s schon geschehen …
Meine Schwiegermutter zog voller Dankbarkeit noch im Herbst in ihr neues Reich ein und bewohnte “ihre Residenz” bis ins Jahr 2008, in dem sie verstarb, und sparte überglücklich ihren bisherigen Mietzins, war aber uns gegenüber äußerst spendabel.