Kurz vor meiner 4. Westreise im Herbst 1989 erklärte ich meinen längs überfälligen Partei-Austritt und steckte mein SED-Parteibuch in den privaten Briefkasten meines Wohngebiets-Parteisekretärs.
Ich war einer der Ersten, doch noch viel früher hätte ich mich das nicht getraut, die Konsequenzen wären da noch für mein Geschäft unabsehbar gewesen.
15 Jahre Parteibeitag zahlen war nun aber auch wahrlich genug!
Dieser Parteisekretär bekam in den folgenden Monaten viel “Post”! Schade eigentlich, ich hätte mein Parteibuch heute meistbietend bei Ebay an irgendeinen kranken Nostalgiker verkaufen können… Das Neue Forum, die erste DDR-weite Bürgerbewegung nahm auch im Kreis Quedlinburg immer deutlichere Konturen an. Einer meiner Cousins war hier mit aktiv beteiligt. Auch hier fanden nun, mit einiger Verspätung wie in Leipzig, wöchentlich die Montags-Demonstrationen statt. Auch ich bin in Quedlinburg und Harzgerode regelmäßig mit marschiert. Denn so konnte es nicht weitergehen!
Das waren die ersten Umzüge meines Lebens, die freiwillig und aus tiefstem Herzen erfolgten!
In Quedlinburg begannen die Demonstrationen meist in der Nikolaikirche am Mathildenbrunnen, nach Verlesen von Forderungen und kurzen Ansprachen zum Mut machen. Hier spürte jeder den Aufbruch. Heute weiß man, dass sich damals etliche Stasileute unters Volk gemischt hatten und mitliefen, um, wem auch immer, noch zu berichten.
Ein Demonstrationszug lief über den Steinweg, dann ging es weiter durch die Clara-Zetkin-Straße bis vor die SED-Kreisleitung. Hier wurden schweigend hunderte Kerzen auf das niedrige gemauerte Gartenzaun-Gesims gestellt. Als Ausdruck des breiten Protestes.
Und drinnen, hinter schäbigen, teils kaputten herabgelassenen und Farbreste blätternden Holzrollos machten sich die “tapfersten” Genossen die Hosen voll!
Teils wohl aus Angst ums nackte Leben, doch bei manchem wird schon ein Anflug von purer Zukunftsangst mitgemischt haben. Denn lange bezahlte denen ihr faules unproduktives Leben niemand mehr. Die SED-Kreisleitung wurde schlagartig flüssiger als das Wasser der Bode. Sie wurde überflüssig!
Ihre rohe Verlogenheit gegenüber dem eigenen Volk spiegelte sich schon in Raum 8, im Kellergeschoss der SED-Kreisleitung in der Quedlinburger Adelheidstraße, die damals noch Clara-Zetkin-Straße hieß, wider. Hier war eine Verkaufsstelle nur für das SED-Personal der Kreisleitung eingerichtet. Auch ein Genosse von außerhalb hätte hier nichts bekommen. Hier konnte nur die selbsternannte Elite bestes Obst und allerlei Lebensmittel, Genussmittel und andere Ware, die “draußen” nie zu bekommen war, kaufen.
Ich selbst habe diese Räumlichkeiten aus ganz anderem Anlass um 1983/84 gesehen. Da war ich platt! Es ist beeindruckender, wenn man etwas mit eigenen Augen sieht, als nur davon zu hören.
Die führenden Genossen nahmen für sich alle Vergünstigungen, auch wenn sie dem System völlig widersprachen, gern in Anspruch. Richteten aber sogleich harsche Kritik ans gemeine Volk, wenn es Gleiches tun wollte.
Wasser predigen und Wein saufen galt nicht nur für die Kirchen.
Doch alle Demonstranten blieben friedlich beim Vorbeimarsch. Weiter lief der Zug die Bahnhofsstraße entlang, dann ein Stück der “Stadt-Null” direkt zum Markt. Dieser Platz schluckt etwa 7.000 Menschen. Doch dieses Mal waren auch noch die Seitenstraßen voller Protestler. Auf dem Rathausportal spielten sich bald unglaubliche Szenen ab. Der amtierende Bürgermeister und der SED-Kreisvorsitzende wurden ausgebuht. Sie wurden genötigt, erstmals ohne Zettel frei zu reden. Das war teils ein tüchtiges Gestammel. Es war aber auch der Beginn der “Runden Tische”, die es nun auch in Quedlinburg regelmäßig gab.