Auch der lange stationäre Krankenhausaufenthalt meines Vaters neigte sich seinem Ende entgegen. Luftveränderung war nun angesagt! Welch großes Wort für einen neuerlichen Umzug.

Im August 1953 lautete das Motto: Umzug in den Oberharz nach Tanne, Abschied von Oma Hedwig, die ich im letzten Jahr auch kaum zu Gesicht bekam.

Das Dorf Tanne bekam eine noch nicht ganz 23-jährige Bürgermeisterin, meine Mutter, von der SED verordnet. Dem jugendlichen Alter geschuldet kann sie logischer Weise in der Verwaltungspraxis noch nicht so ganz erfahren gewesen sein, sie war aber, was wesentlich wichtiger schien in damaliger Zeit, absolut linientreu. Andere wären damals nie an die Grenze gekommen. Wenn das kein berufliches Sprungbrett war!

Kronprinz

Vati bekam als Frührentner seine Luftveränderung, noch dazu reine Westluft, denn von Westen wehte hier ja immer ein laues Lüftchen. Und ich bekam, wie sollte es anders sein, wieder neue Vorgesetzte. Von August 1953 bis November 1954 besuchte ich “frühreif” den Kindergarten in Tanne, denn eine Krippe hatten die Oberharzer nicht vorgesehen.

Hier blieben normale Kinder traditionell erstmal sinnvoller Weise 3 Jahre bei der Mutter am heimischen Herd. Will aber nicht meckern, ich war nun erstmals 16 Monate am Stück mit meinen Eltern vereint.

Und erstmals ein Kronprinz, der Kronprinz in Tanne!

Kindergarten Tanne

Der Kindergarten war und ist bis heute in einem Wohnhaus untergebracht. Dieses wurde von der SED requiriert, die Eigentümerfamilie enteignet und passender Weise wegen “Unzuverlässigkeit” zwangsumgesiedelt. Das war damals, ohne Rücksicht auf persönliches Eigentum, tausendfache gängige Praxis in der DDR! Tausendfaches Unrecht!

In Tanne wohnten wir anfangs im Schützenhaus am Dorfende Richtung Benneckenstein, dicht an der Demarkationslinie (Grenze).

Ob der alte Bürgermeister auch erst vertrieben werden musste, weiß ich nicht, jedoch zogen wir erst etwas später ins Gemeindeamt.

Schützenhaus Tanne

Jetzt bekam das Dorf Tanne, das einzige Dorf in ganz Deutschland auch noch einen “Roland”! Der war allerdings nicht aus Stein, sondern unser treuer Schäferhund. Der war von meinem Opa gesponsert, und hatte den “Parteiauftrag”, auf seinen Schwiegersohn, meinen Vater aufzupassen! Denn der wanderte sehr oft verdächtig dicht an der (noch) grünen Grenze entlang … ;)

Hier lernte ich auch bald das Dreiradfahren, mit Gummistiefeln, und das noch dazu alles im Haus die Treppe runter. Nach ein, zwei Rollen vorwärts landete ich unten. Seitdem hatten wir 2 schöne Halbkreise, durch meine Stiefelchen verursacht, als gelungene Dekoration an der tristen Wand.

Ob ich sehr auf meinen Kopf fiel, weiß ich nicht mehr, ich erwähne diese Möglichkeit nur, weil mir später des öfteren gesagt wurde, dass ich was am Kopf hätte …

Direkt zu Füßen der Treppe befand sich eine große Kellerklappe im Fußboden.

Gemeindehaus Tanne

Zum Kohlen holen wurde diese geöffnet und gesichert. Wohl aber nicht immer mit der größtmöglichen Sorgfalt, denn ich schaffte es einmal, die Sicherung zu lösen und schon hatte mein lieber Papa eine große Beule, und die war auch am Kopf.

Ich kann mich, obwohl ich zeitlebens nie wieder in diesem Haus war, noch recht gut an fast alle privaten Räume erinnern. In der Küche stand ein viereckiger Küchentisch direkt am Fenster. Das Fenster war an der bergseitigen Straßenfront, der Schulstraße.

Das Fensterbrett war sehr niedrig, in etwa Straßenoberkante. Ich sehe noch heute, wie eine neugierige Harzkuh, die eigentlich auf die Weide trotten sollte, in unser Fenster guckte. Sie steckte ihren ganzen großen Kopf durchs Fenster. Ich saß innen am Tisch. Fürchterlich für einen Dreikäsehoch, so ein Frühstück mit riesigem Kuhschädel …

Küchen-Fenster Tanne

Nach einem abendlichen Kinobesuch liefen einige Dorfbewohner heimwärts im Stockdunkeln vor meinen Eltern einher. Nicht ahnend, dass sie von diesen gehört werden. Diese Dorfdeppen zogen recht abfällig nun über die gesamte Familie Zottmann her: “… das dürre Gewirre und das halbtote Gerippe mit ihrem gelähmten Bengel …” Gemeint waren der Reihe nach Mutter, Vater, Volker. Meine Mutter war eine schlanke hübsche junge Frau, wandelte sich nun aber zum dürren Gewirre. Ihr Mann, zugegebener Maßen schwerst krank, zum Gerippe und ich wurde zum Gelähmten gestempelt, nur weil mein Vater mich überall hin mitnahm und liebevoll umsorgend in einer Sportkarre spazieren fuhr.

Bei ihrem nächsten Friseurbesuch wurden denen vom Friseurmeister Männe Oberländer die Leviten gelesen. Meine Eltern hatten sich nämlich bereits mit Oberländers angefreundet und ihnen Gehörtes berichtet …

Dass Tanne an der Demarkationslinie lag, interessierte mich damals noch recht wenig. Doch soll man nicht glauben, was das für mich noch bedeuten würde. Wie das meine ganze spätere Einstellung im schizophrenen, ja abstrusen Teil Deutschlands noch beeinflussen würde … Doch dazu später.

Noch sind meine ersten 4 Jahre und das Herumreichen nicht vorbei!