Düsseldorf´55

Eines Tages im November 1954 trat ich gemeinsam mit meiner Mutter eine große Reise an. Nicht ahnend, dass ich die gleiche Fahrt 1987, also erst 33 Jahre später, mit dem “DDR-Mumienexpress” wiederholen würde.

Mutti brachte mich nach Düsseldorf-Wittlaer. Sie “parkte” mich hier zweckmäßiger Weise 4 volle Monate, aber ohne jede Not.

Hier lebte ich nun bei Vatis Bruder Otto, Tante Maria (Mimi), die ich damals nur Tante Reia nannte und bei meinem Cousin Karl-Otto, von allen Karlo genannt. Die wohnten hier, seit sie 1949 Quedlinburg wieder den Rücken kehrten und Ihre Wohnung in der Heinrich-Zille-Straße meinen Eltern nach deren Heirat überließen.

Cousin Karlo hatte fortan immer auf mich aufzupassen, denn der war schon “groß”, 11 Jahre alt.

Ruck zuck war ich allein in der Fremde, wieder einmal! Ich wurde meiner Tante und dem Karstadt-Weihnachtsmann übergeben. Meine Mutter aber fuhr allein, ohne mich nach Tanne zurück.

Dort sollte die Wohnung aufgelöst werden, denn Vati war zwischenzeitlich wieder genesen und somit arbeitsfähig und hatte wieder Arbeit in Quedlinburg gefunden.

Meine Mutter war zu alledem irgendwie wieder schwanger geworden, was mir aber, obwohl ich im gleichen Zimmer schlief, nicht sonderlich aufgefallen war; und eine hochschwangere Bürgermeisterin wollten die wohl in ihrem Gebirge nicht …

Nur deshalb wurde meine Schwester dann im Januar 1955 in Quedlinburg geboren, und lebte auch, allerdings nur noch eine ganze Woche, in Tanne!

Doch ich war derzeit ahnungslos wie immer und in Düsseldorf bis weit in den März 1955.

Es war in Erinnerung dort eine ereignisreiche und schöne Zeit. Allerdings wieder ohne Eltern! Ich stand oft mit Onkel Otto unten am Rhein auf der Terrasse beim Kneiper Jupp in Wittlaer und wartete auf die Wellen, verursacht von den großen Lastschiffen, die am gegenüber liegenden Ufer vorbei zogen.

Karlo und die ganzen Kinder von Tante Aenne und Onkel Hans waren mit mir oft auf dem gänzlich zugefrorenen Schwarzbach, der hier bei Wittlaer in den Rhein mündet. Alle vier Kinder von S. sind ebenfalls Karlos Cousins und Cousine. Deren Mutter, Tante Aenne S., ist Tante Marias Schwester gewesen. Karlo, Anneli, Hans-Joachim, Erhard und Wolf-Rüdiger amüsierten sich über meine Angst, denn am Ufer knackte das Eis oft bedrohlich. Heute weiß ich, dass der Bach nicht all zu tief war und ist. Da konnte beim besten Willen keiner ertrinken.

Ebenso hatte ich auch noch genaue Erinnerungen an das typisch niederrheinische Ziegelstein-Wohnhaus in der Duisburger Straße 65, wo Zottmanns Parterre links wohnten.

Das fand ich ohne jede Hilfe 1987 sofort wieder.

Volker's Faun

Schon 1946/47 baute mein Onkel Otto in Quedlinburg für seinen Sohn Karlo einen Spielzeug-Lastkraftwagen mit Anhänger, nur aus Aluminium und Sperrholz.

Jedes Rad wurde einzeln gedrechselt und auf 2 Kugellagern gelagert und war obendrein gummibereift. Die Kugellager klaute Onkel Otto im ehemaligen Fliegerhorst “Römergraben” Quarmbeck, vor den Augen der Russen, von den Flugzeugresten aus deren Leitwerken.

Radkappen stanzte mein Vater 2 Jahre später in der Union aus Aluminiumresten und mit Materialentnahmeschein, denn er hatte keine Lust, wegen Materialklau in einem russischen Gulag zu verschwinden.

Der ganze Faun-LKW war originalgetreu blattgefedert.

Ein feines Spielzeug, an dem er und auch sein Schwager Hans S. Monate und hunderte Stunden lang werkelten. Tante Reia bastelte dafür tolle Fahrer- und Beifahrerpuppen. Ähnliche Modelle baute das Team auch noch für alle drei Jungen von Onkel Hans.

Durch ein Kreuzgelenk, welches durch das Fahrerhaus geführt wurde, und eine obenauf geschraubte Aluminiumstange mit Messingknauf eines alten Warmwasser-Gasboilers, ließ sich das Gefährt auch wunderbar manövrieren. So konnte das Auto geschoben oder gezogen werden, ohne jedes Bücken, ganz nach belieben.

Zu meinem Düsseldorf-Abschied schenkte mir Karlo diesen, seinen LKW.

Seit langem weiß ich, dass er dies nicht ganz freiwillig tat. Er hatte damals keine Wahl, aber das nötige Einsehen, denn es hatte einen Grund. Der LKW war einfach zu groß, um mit über den großen Teich zu können. So war der LKW von nun an immer in guten Händen und ist es noch heute. Ein Museumsstück!

Es ist das einzige, heute noch existierende und gut erhaltene Modell!

Da Onkel Ottos Familie im Sommer nach Kanada per Schiff auswanderte und nur 3 Schiffstickets besaß, musste ich zurück, diesmal nach Quedlinburg.

Diese Bahnfahrt machte ich mit Vati, der extra anreiste, seinen Bruder samt Familie auf unabsehbare Zeit zu verabschieden. Und mich abholte mit meinem neuen Spielzeug, nicht ahnend, dass ich diesen Teil der Zottmänner, so wie er, erst ab 1972 wiedersehen durfte. Es blieb meine ganze Kindheit und Jugendzeit immer eine tiefe unerfüllte Sehnsucht nach ihnen in mir …

Und hier beginnt bereits das Schizophrene! Ich erlebte intensiv zwei völlig verschiedene Welten! Hatte fortan zwei Leben, ein kurzes vergangenes im Westen und das neue hier im Ostteil Deutschlands.

Ungewollt zwei Seelen in meiner Brust! Dieser Aspekt, meiner inneren verborgenen Zerrissenheit, wurde elterlicherseits total unterschätzt.

Vor der Palme

Ich war als fast 4-Jähriger bereits im “gelobten Land”. Dort wo es Bananen und Blockschokolade für mich sichtlich im Überfluss gab. Wo sich Türen von Karstadt bereits mittels Lichtschranke selbsttätig öffnen konnten und die Treppe in diesem Kaufhaus mich empor fuhr. Inmitten der großen Stadt nahm ich außerdem damals schon den ersten Hubschrauber meines Lebens, hoch über mir, wahr. Das war und blieb für mich schlicht und ergreifend das Land der Superlative!

Nach ewig langer Bahnrückfahrt merkte ich bereits als knapp 4-Jähriger, dass wir bald am Ziel sein müssten. Denn ich stellte fest, dass ab Oebisfelde die Wagen wieder zu rattern begannen. Hier waren noch keine Schienenstöße verschweißt … Das hat mir Vati später noch oft erzählt, obwohl es mir auch so, oder gerade deswegen, immer gegenwärtig war.

Kurz: Mein kleines Menschenhirn hatte schon unbewusst verinnerlicht, dass der Westen uns, dem östlichen Deutschland, haushoch überlegen ist. Ich machte es als kleines Kind unbefangen an den paar banalen Gegebenheiten fest. Aber diese Gedanken brannten sich in mir fest.

Selbst der Rhein war letztlich breiter als die Bode!