Der Quedlinburger Bahnhof empfing uns, wie alle Reisenden Jahre und Jahrzehnte später auch. Wir hatten noch einen langen Fußmarsch vor uns, bis in die Bergstraße 3, genau dem Bismarckhain in der Süderstadt gegenüber, unsere neue Adresse. Das dauert vom Bahnhof höchstens 8 Minuten, aber damals erschien mir alles weiter und größer.
Nur eins war recht klein und im Körbchen versteckt, mein neuestes Spielzeug, meine Schwester! Und auf der Anrichte saß ein süßes braunes Marzipan-Eichhörnchen.
Ich kann mich zu 100 % an diesen Abend erinnern!
Nun war fast alles schöner, ich hatte meine Eltern endlich wieder, aber eben nicht mehr allein …
Ab jetzt galt gefühlt alle Aufmerksamkeit meiner Schwester.
Ich war nun die Nr. 2!
Logisch, für mich jedoch schwer zu verstehen.
1955 oder 1956 muss es gewesen sein, als mich mein Vater jeweils abends auf den Kindersattel seines Fahrrades hob und mir zwei beeindruckende Unglücksstellen zeigte. Er radelte zur Frachtstraße. Hier haben wir lange bis in die Nacht in die Gleise des Güterbahnhofes gesehen. Waren doch zwei große Dampflokomotiven gleichzeitig parallel auf eine Weiche zu gefahren und sind somit seitlich gewaltig ineinander gestoßen. Die haben sich gegenseitig aus dem Gleis gehoben und eine Lok drohte nun umzustürzen, was aber durch allerlei verhakten Lokschrott verhindert war. Die standen nun die ganze Nacht, bis ein riesiger Schienenkran am folgenden Tag Abhilfe schaffte, das Knäul entwirrte.
Ein weiteres Unheil war ein Großbrand auf dem Gelände der Firma Schwarz, einem Fuhrunternehmen. Das ereignete sich auch abends, allerdings am Ziegelhohlweg, Ecke Halberstädter Straße. Hier brannte eine riesige Fahrzeughalle mit allen darin abgestellten Firmen-LKW restlos nieder. Das war schaurig, für mich als vielleicht 4- oder 5-jährigen Knirps allemal. Es waren aber beides einmalige Eindrücke, und weil ich mit dem Vater und dem Fahrrad nachts unterwegs war, eben auch besonders einprägsam.
Wesentlich wichtiger und schöner aber war ein ganz anderer Umstand …
Quedlinburg hatte gegenüber Tanne für mich einen gewichtigen Vorteil, denn mein größtes Glück wohnte hier in der Leninstraße 24, dem heutigen Harzweg, hofseitig, innerhalb Rieneckers Fuhrbetrieb und Kohlenhandlung:
Das war Vatis Mutter, meine Oma Hedwig!
Wir hatten uns nun endlich wieder. Sie war bis ins Jahr des Mauerbaus 1961, als sie bereits 72-jährig verstarb, meine allererste Anlaufadresse.
Ich war Omas zweitgeborener Enkel, also wohl aus ihrer Sicht auch ein schöner “Ersatz” für Karlo (Karl-Otto), der etwa 5-jährig Quedlinburg und seine Oma mit seinen Eltern verließ und fortan in Düsseldorf und nun in Calgary wohnte.
Das war für mich die schönste Zeit meiner gesamten Kindheit, bei und mit Oma Hedwig.
Trotz ihrer unsäglichen Armut hat sie alles für mich getan, bei ihr habe ich stets Liebe und Zuneigung verspürt.
Beides hatte mir bei all der Rumreicherei und allen Veränderungen offensichtlich sehr gefehlt.
Ich kann mich an sehr viele Einzelheiten meiner frühen Kindheit erinnern, aber wahrlich nicht daran, je wirklich liebevoll von meiner Mutter gedrückt oder gestreichelt worden zu sein, obwohl das unbestritten sicher auch mal der Fall war.
Ich erinnere mich aber heute noch gerne an eine Ausnahme, an einen Urlaub in meinen ersten großen Ferien 1958, nur mit Mutti in Tanne. Hier hatte ich erstmals seit Langem wieder die ungeteilte Aufmerksamkeit meiner Mutter. Dazu später mehr.
Ganz, ganz selten kam ihr sonst aber mal, mich betreffend, ein Lob über die Lippen.
Ihr Hauptaugenmerk war stets darauf bedacht, dass ihre beiden Kinder fortan ins Bild, ins politische Bild passen … Möglichst nicht auffallen und linientreu angepasst zu funktionieren, das war meine unausgesprochene, aber erwartete Aufgabe.
Das klappte nur selten … Konflikte zwischen ihr und mir waren so, besonders in meiner späteren Schulzeit vorprogrammiert … Die wurden später, so im Alter von 10 bis 15 Jahren größer und für mich fast unerträglich …
Ich bin nach den vielen Jahrzehnten aber keineswegs am verurteilen, nur am analysieren …
Mutters größtes Defizit war, dass sie während meiner gesamten Kindheit und Schulzeit “linientreu” immer ihre Familie hintenan stellte, sich anscheinend zuerst dem Staat verpflichtet fühlte! Selbst im Zweifel erst die Partei! Ihre SED. Doch Zweifel gab es nie!
Sie war immer mit Enthusiasmus und Freude bei ihrer Arbeit. Eine wirkliche sanftmütige, stete und nachhaltige Erziehung konnte sie dadurch aber schon aus Zeitmangel nicht leisten.
Lediglich zu unseren jährlichen 3-Wochen-Urlaubszeit war unsere Familie so, wie ich sie mir immer wünschte. Hier hatten meine Eltern immer uneingeschränkt für uns Zeit.
Heute, mehr denn je, bin ich der Auffassung, dass weder Geld, noch die eigene Karriere es Wert sind, sich nicht zu allererst selbst um seine Kinder zu kümmern!
Ich meine, kontinuierlich familiäre Wärme zu schenken.
Wie unwichtig aber der Staat ist oder war, hat die jüngste deutsche Geschichte, im besonderen die der DDR, bewiesen.
Staatsgefüge vergehen, aber Familien bleiben bestehen!
Und nur die verdienen, zu allererst gehegt und behütet zu werden.
Wenn jemand nicht bereit ist, die ersten Jahre vorrangig seinem Kind zu widmen, sollte er sich besser, so mein Empfinden, keine anschaffen.
Den Ton innerhalb unserer Familie gab immer die SED an! Diese Partei gab ja auch kraftstrotzend, aber eben doch selbstüberschätzend wortwörtlich vor:
“Die Partei, die Partei die hat IMMER recht!” Das war purer Narzismus.
Und diesen anmaßenden, makaberen Schwachsinn haben die Genossen auch noch als Kampflied geträllert.
Und die SED in unserer Familie hatte einen Namen …
Das alles wusste ich als 4-jähriger Knirps natürlich noch nicht. Zusammenhänge, warum mein Kinder- und Jugendleben so, und nur so verlief, verstand ich erst während meiner eigenen, wesentlich später erlangten Unabhängigkeit …