Kindergarten Quedlinburg
Volker + Oma Hedwig

Jetzt kam aber erst mal eine für mich sehr lange, wunderschöne Kindergartenzeit im HO-Kindergarten, auch in der Leninstraße. Ein Katzensprung von Rieneckers Fuhrbetrieb und Kohlenhandlung entfernt.

Oma war nun tagtäglich und jederzeit fühlbar …

Im HO- Kindergarten blieb ich bis zu meiner Einschulung 1957, danach war ich weiterhin im gleichen Haus, aber dann im Obergeschoss, im Schulhort untergebracht. Täglich ging ich nun nach meinem Kindergartentag vier Häuser weiter zur Oma.

Alle freuten sich 1955 über meinen frisch eingeschleppten Rheinländer-Dialekt. Allerdings kam es schon am ersten Tag zu einer Rauferei im Kindergarten.

Ich war schuld. War ich ab sofort immer, im Zweifel war nun immer Volker schuld …

Wenn ich von Düsseldorf erzählte, glaubte mir niemand, dass sich Türen selbst öffnen, und als ich erwähnte, dass auch noch die Kaufhaustreppe rollt, war die Keilerei im Gange. Wer war schuld? Volker!

Doch jeden Nachmittag war ich bei Oma Hedwig, die tröstete sehr gut …

Ich erinnere mich, dass Oma Hedwig mir täglich ein Schälchen Haferflocken mit Traubenzucker zubereitete. Zu besonderen Tagen hatte Oma noch ein paar Rosinen und einen halben Löffel gutes Kakao-Pulver, das im Päckchen aus dem Westen kam, untergemischt. (beim Wort Kakao sprach sie alt-mansfeldisch die beiden letzten Vokale immer einzeln, betonte das A und das O, es war also kein “Kakau”, nein, es hieß “Kaka-O”. Schon dadurch bekam das Pulver für mich etwas Besonderes übergestreift, etwas ehrfürchtig Wertvolles)

Das Pfund Haferflocken, zu 49 Pfennigen, leistete sich meine Oma nur für mich. Den Traubenzucker verschrieb ihr der Hausarzt Dr. Sodtke damals auf Rezept. Wäre für sie sonst auch unerschwinglich gewesen. Eine gute Tasse heißen Kakao zu trinken, war ihr nur durch Onkel Ottos Pakete möglich.

Um ihre Armut zu verdeutlichen:

Sie trocknete gebrauchte Lorbeerblätter, um sie ein zweites Mal zu benutzen. Wer es nicht glauben kann, soll es bleiben lassen. Ich aber weiß, dass es stimmt!

Pflaumenkerne wurden nach ihrer Trocknung geknackt, um die Blausäure enthaltenden Samenkerne als jämmerlichen Mandelersatz später dem Kuchen beizumischen. Beides lag zum Trocknen in einem der zwei armseligen Fenster, deren Kitt keinen Winter überstand und kaum die Scheiben halten konnte.

Lediglich im Winter waren die Fenster mit den riesigen, schönen vom Frost gemalten Eisblumen eine kindliche Augenweide. Sonst aber ein Bild bitterster Armut!

Oma bewohnte einen einzigen Wohnraum. 2 Seiten waren halbsteinige Fachwerk-Außenwände ohne jede Dämmung. Der Raum diente ihr auch zum Schlafen und Kochen. Als “Herd” besaß sie nur einen 2-flammigen emaillierten kleinen Tisch-Gaskocher.

Sonst standen noch ein Bett mit einem Wust an Federkissen, ein Vertiko, ein Kleiderschrank und ein Chaiselongue in braunem Samt-Plüsch mit hochherrschaftlicher Rückenlehne und angehefteten Spitzendeckchen im Raum. Davor ein Stubentisch und 4 hochlehnige Stühle. Hier durfte ich mir fast täglich mittels Decken eine Stuhl-Höhle bauen. Wunderbar!

Gleiches tun heute meine beiden 3-jährigen Enkelinnen in unserem Wohnzimmer. Wir sind zwar nicht mehr so arm wie die Oma, aber Höhlen stehen immer noch hoch im Kurs. ;)

Als besonderes Spielzeug hegte die Oma eine Kaffee-Blechdose mit Knöpfen jeder Art, Farbe und Größe. Meine Schatzkiste! Damit habe ich wohl hunderte Male gespielt. Ebenso existierte ein damals schon uraltes Bilderbuch mit gezeichneten Tieren der fremdesten Länder. Das gibt es immer noch.

Im Treppenhaus roch es immer “hochherrschaftlich” wohlig. Mich umgab ein Duftgemisch aus Bohnerwachs und Rinderbraten oder leckersten Bratkartoffeln. Die Wohlgerüche aber stammten leider ausnahmslos aus Rieneckers Küche und steckten stets als Dauerleihgabe in allen Dielenritzen.

Meine Oma muss es so manches Mal als Pein empfunden haben, wenn ihre Rente nicht mal recht zum Sattwerden reichte. Da roch der Flur nach leckersten Speisen und sie aß einsam und verlassen Eingeflocktes, also Malzkaffee mit eingebrocktem trockenen Brot. Oft gar 3 Mal am Tag. Sonst nichts.

Dieses Bild habe ich noch im Kopf, zu oft habe ich das erlebt …

Das ist auch ein Grund, warum niemals jemand erleben wird, dass ich ein Stück Brot wegwerfe.

Der hohe Wert all unserer Lebensmittel wurde mir hier ganz unbewusst vermittelt.

Brikett

Die Toilette war eine halbe Treppe tiefer als Gemeinschaftsörtchen auf dem Treppenabsatz eingebaut.

Im Keller bewahrte Oma noch als ihre eiserne Reserve ein paar Zentner lange Krupp-Briketts auf. Die sollten erst in absoluten Notzeiten verbrannt werden, weil sie noch “Friedensware” waren.

Da hätten die Läuse an den glitzernden Außenwänden Schlittschuh laufen können, die Kohlen wären nie verbrannt worden! Die stammten also noch aus Vorkriegszeiten und somit aus Eisleben. Die hatten demnach bereits mindestens 2 Umzüge hinter sich.

Abends nach der Arbeit trafen sich in der Regel meine Eltern bei Oma Hedwig. Einer brachte dann meine Schwester aus der Kinderkrippe mit und dann ging es nach einer Weile des Verschnaufens weiter nach Hause.

So verlief nun Tag für Tag und Woche für Woche.

An den Wochenenden sind wir etliche Male zur Bornholzweg-Siedlung gestiefelt, gut 5 km weit, um die andere Oma und meinen Opa zu besuchen.

Strapaziös waren besonders die Rückwege, da war ich dann übermüdet und habe oft auf einem Brett, welches quer über den Korbkinderwagen gelegt war, dämmernd gesessen und konnte kaum das Gleichgewicht halten. Zu den Eltern meiner Mutter später mehr.

Volker + Faun

Ebenso liefen wir zum Eichelberg oder wanderten durch den Brühl zur Altenburg. Dann war sommers immer mein Faun-LKW dabei. Das machte riesigen Spaß. Rückzu wurden beispielsweise Tannenzapfen geladen, zur späteren Beschickung unseres Badeofens. So “half” ich schon recht früh, die Heizkosten im Rahmen zu halten …

Gegenüber Rieneckers Haus stand an gleicher Stelle wie die heutige ARAL-Tankstelle, eine alte MINOL-Tankstelle. Rechts daneben bewohnte eine Familie Keune das verwitterte, holzverkleidete Eckhaus. Direkt am heutigen Kreisverkehr im Harzweg, Einfahrt “Mette-Hof”. Ich weiß nicht, wer Herr Keune war, und womit er seine Brötchen verdiente. Auf jeden Fall schien er aber gern Eier zu essen, denn er nannte einiges Federvieh sein Eigen.

Eines Morgens, das erzählten meine Eltern uns nur allzu gern, betrat Keune seinen Hühnerstall und erschrak : Im Käfig saß lediglich sein Gockelhahn. Die Hühner waren allesamt geklaut. Dann erblickte Keune eine Zettelnachricht des Diebes, in gereimter Form, die an ihn gerichtet war (perfekt wäre gewesen, wenn die der Hahn vorgetragen hätte):

Guten Morgen Herr Keune,
gestern war’n wir noch Neune,
heute bin ich alleune!

Ihm wurden also über Nacht acht Hühner gestibitzt … Und dennoch fand er über all seinem Ärger die Idee mit dem Reim so originell, dass er darüber schmunzelnd die Lokalzeitung informierte.

Fast an gleicher Stelle, nämlich an der MINOL-Tankstelle wollte ich die Straße in Richtung Oma Hedwig oder zum Schulhort wechseln. Es trug sich während meines ersten Schulwinters, also 1957/58, zu. Die Leninstraße hatte damals noch grobes Kopfsteinpflaster und war sehr vereist. Ich trat zwischen abgestellten Autos direkt und wohl ohne den obligatorischen Seitenblick aufs Pflaster. Ich rutschte aus und lag sofort, schlitterte dann auf dem Bauch in Richtung gegenüber liegende Gosse. Zeitgleich kam ein PKW (wahrscheinlich ein “DKW F 8”) vom Bahnhof her gefahren und schob mich einige Meter weiter. Das war ein Schreck, wohl erst recht für den Fahrer und die Passanten. Ich wurde nun halb vorgezogen, halb tat ich das selbst und stand wieder. Ehe die Umstehenden das alles begriffen, hatte ich schon meine Beine unter die Arme genommen und bin unverletzt so schnell es ging getürmt. Nicht den kleinsten Kratzer habe ich abbekommen.

Komischerweise wussten meine Eltern abends schon ohne mein Zutun von meiner jüngsten Kapriole … Ich muss da schon sehr bekannt gewesen sein. :)

So glücklich endete meine erste und einzige Unfallflucht!