Unmittelbar vor meiner Einschulung brach ich mir irgendwie (alles weiß ich auch nicht mehr) den rechten Unterarm an. Nun “durfte” ich wieder einmal allein verreisen. Ich kam vergipst nach Friedrichsbrunn ins Kinder-Erholungsheim. Hier blieb ich einige Wochen, um täglich, wie alle anderen Kinder, ekeligste Mehl- und Haferschleimsuppen essen zu müssen und zu wandern.
Erfolg hatte die Kur aber offensichtlich, denn auch ich kam noch pünktlich zum Zuckertüten-Empfang in die Martin-Schwantes-Schule, die heutige Bansi-Schule.
1957 begann dann der Ernst des Lebens. Auch mir blieb die Schule nicht erspart. Obwohl auch ich mich von meinen Gefühlen täuschen ließ, und mich anfangs riesig darauf freute. Die ersten zwei Jahre machten mir auch richtig Spass. Unsere Klassenlehrerin Frau Haider verstand es prima, uns allen das Lesen und Rechnen beizubringen.
Wir 36 Schüler gaben uns die ersten Jahre bestimmt alle Mühe dieser Welt.
Obwohl ich in späteren Jahren wegen Unlust und Faulheit, oder wohl mehr aus unbewusster Opposition, einer der schlechtesten Schüler wurde, habe ich doch mehr begriffen, als einige Wenige, die auch heute nur bis 10 zählen können.
Nach einigen Tagen in der Martin-Schwantes-Schule kam während des Unterrichts der ungepflegte Hausmeister M. in unsere Klasse, und hat unseren Mitschüler Bubi mit Gewalt rausgeführt. Bubi kam in die Hilfsschule. Das war ein fürchterliches Erleben für uns alle. Die Schulleitung hätte diese “Kinderverschleppung” auch diskreter durchführen können. Das hat uns tagelanges Unbehagen bereitet. Auf gleiche Weise wurde etwas später ein weiterer Schüler verbracht.
Vermutlich im Jahre 1958 kauften meine Eltern ihren allerersten Fernseher. Ein Standgerät “Forum” mit Radioteil. Das war ein Ereignis!
Als der erstmals angeschaltet wurde, musste stundenlang die Antenne ausgerichtet werden. Als endlich alles zusammenpasste, war jedoch erstmal eine lange Sendepause (damals gab es nur Tagesprogramm und es wurde nur stundenweise augestrahlt). Über Stunden haben dann meine Schwester und ich, sicher auch die Eltern, das DDR-Testbild angesehen. Irgendwann bewegten sich dann die ersten ruckelnden schwarz-weiß Bilder. Unglaublich!
Als einzige Kindersendung lief damals immer am Sonntag-Vormittag ab 10:00 Uhr “Flax und Krümel”, das waren 2 Handkasperpuppen, ein Hund namens Struppi und die Oma.
Von nun an hatte meine Schwester ihren ersten Freund, den Andreas. Der saß nun jeden Sonntag bei uns im Wohnzimmer, stets auf dem Fussboden, warum auch immer. Geheiratet hat er aber später in Undank doch eine Andere, seine Marlis aus Warnstedt, und ist nach seiner DDR-Ausbürgerung 1984 endlich doch noch, seinem Berufswunsch entsprechend, Verkehrspilot in Hamburg geworden!
Sein Leben hätte aber beinahe einen tragischeren Verlauf genommen. Denn als in unserer Straße erstmals Betonlichtmasten aufgestellt wurden, musste Andreas unbedingt sein rechtes Bein in einen schmalen noch offenen Kabelschlitz stecken. Und kam nicht mehr heraus. Hat der gebrüllt, aber wohl mehr aus Angst vor der bevorstehenden Amputation.
Dass die nicht stattfand, hat er einigen beherzten Helfern, die sich wohl eine Stunde lang abmühten und einer Menge Fett zu verdanken …
Irgendwann wohl in dieser Zeit, ich mag vielleicht 7 oder 8 gewesen sein, wurde ich all sonntagmorgens losgeschickt. Nein, nicht in die Kirche. Ich brauchte bloß bis zum Heinrichsplatz laufen. Dort fand am Sonntag immer für vielleicht 2 Stunden ein Frischmilchverkauf bei Frau Leithold statt. Auch diese ältere Verkäuferin war irgendwie mit meiner Mutter verwandt. Bei insgesamt 76 Cousinen und Cousins und deren Nachkommen in und um Quedlinburg kein Wunder.
Hier wurde die Milch noch in eigenen 1- oder 2-Liter-Milchkannen geholt. In großen 20- bis 50-Liter-Kannen wurde die Milch angeliefert. Hier hatte ich mich nun immer in eine Schlange von Milchdurstigen einzureihen.
Es ging aber dennoch bei Frau Leithold recht flott zu. Man übergab seine Milchkanne und bekam mittels eines Alu-Mess-Schöpfbechers die gewünschte Literzahl umgefüllt. Wenn 10 Mann vor mir standen, hörte ich dann insgesamt 11 mal “Bitteschön, Dankeschön, Auf Wiedersehen…”.
Sie übergab bittend die Milch oder abgewogene lose Butter, nahm dankend das Geld und Tschüss … Immer das gleiche Ritual. Ihren Singsang habe ich noch heute in den Ohren.
Solche kleinen schönen Läden mit ihren banalen Besonderheiten gibt es leider nicht mehr. Unsere Welt wird ärmer …
Hatte ich mal Dank verkaufter Altstoffe einen Groschen über, konnte ich mir beim Bäcker Streithoff einen Amerikaner oder eine Streuselschnecke leisten.
Oder zwei Häuser daneben beim Kaufmann Meyer 3½ Kaugummi-Kissen. Der schnitt das vierte zwei Zentimeter große Kaugummi wirklich durch. Ich staunte dann, dass er mir “großzügig” somit einen halben Pfennig schenkte …
Als Bäcker Streithoff eine neue Verkäuferin beschäftigte, brachen für mich kurzzeitig tolle Tage an. Ich sah Bäckerssohn Thomas offenbar recht ähnlich, jedenfalls verwechselte die gute Frau uns immer. Wenn ich nun eintrat und um eine Streuselschnecke bat, übergab sie mir die mit “bitte, Thomas”. Das war Klasse, nur noch danken und nichts mehr bezahlen …
Ich weiß nicht, ob der Bäckerladen überlebte. Schuldgefühle habe ich aber nie bemerkt, eher Begeisterung.