Im Sommer 1958 war ich, wie schon erwähnt, mit meiner Mutter allein, wieso auch immer, in Tanne urlauben. Wir wohnten bei einer Familie Köhler in der Bodetalstraße. Das waren schöne Ferientage. Wir beide wanderten im damaligen Sperrgebiet von Tanne aus bis Mandelholz. Quer durchs obere Bodetal, das Tal der “Kalten Bode”, dort wo sich heute der Grund des Stausees Mandelholz befindet. Wir “halfen” auch beim Getreidedrusch auf dem Tanner Dreschplatz. Vor der Dreschmaschine und der Strohpresse mit ihren metallenen Greifern hatte ich jedoch gewaltigen Respekt. Ebenso haben wir Köhlers beim Brennholz sammeln geholfen. Da ging’s mit einer abenteuerlichen Fuhre aus Richtung Trautenstein kommend mit Gejohle den Berg hinunter.
Nach Tanne hat uns sicher mein Vater gefahren, mit unserem halben Auto, das wir auch seit etwa 1957/58 besaßen.
Die andere Hälfte gehörte unseren Nachbarn. Ja das gab es, allerdings wohl nur einmal in der DDR. Beide befreundeten Ehepaare kauften gemeinsam einen ladenneuen “P 70”, den “Trabant”-Vorgänger. Unsere Familien nutzten den “Wagen” wechselseitig immer eine Woche lang.
Sie haben das Time Sharing erfunden, nur leider nicht patentieren lassen …
So konnten wir ab sofort jedes zweite Wochenende Harztouren oder andere Ausflüge unternehmen. Das war toll, wiedermal stand auch ich im Mittelpunkt, im Rampenlicht. Keiner in unserer Klasse sonst hatte einen PKW.
Wir 4 Kinder spürten aber regelmäßig den Neid, auch in der Nachbarschaft. So wurden wir Kinder manchmal aufgezogen: “Na, fahrt ihr wieder mit eurem halben Auto in den Harz?”
Unser Nachbar, der Vater von Andreas, leitete damals eine Drogerie, das Foto-Fachgeschäft in der Kreisstadt Quedlinburg. In punkto Fotografie war er eine Instanz. Doch am allermeisten faszinierte mich seiner Zeit seine uralte Registrierkasse, die in seinem Geschäft auf dem Tresen stand. Die war komplett mit Münzen aus aller Herren Länder bespickt. Schon beim Anblick verströmte die Kasse bei mir Reiselust, die allerdings noch lange nicht gestillt werden durfte …
Von Onkel Otto erhielten wir in dieser Zeit seine ersten dicken Foto-Berichte, wie er es nannte. Das waren tagebuchartige Dokumentationen seiner Auswanderung und die ersten Gehversuche in Kanada. So wohnte er dort die ersten Jahre in Calgary bei einem gebürtigen Polen in einer Kellerwohnung in der Child Avenue.
Seine Düsseldorfer Bleibe zuvor war da wesentlich komfortabler. Allerdings konnte er bereits nach kurzer Zeit sein erstes Auto sein Eigen nennen. Und bereits nach 3 Jahren kaufte er Land im 100 km entfernten Water-Valley und baute eine Cabin, ein bärensicheres hölzernes Wochenendhaus mit 48 m².
Da stiegen in mir schon gewaltige Reise-Sehnsüchte empor.
Dem zum Trotz hat es unser Gefährt, der “P 70”, sogar einige Male bis auf den Brocken geschafft. Allerdings mussten wir kurz vor dem Gipfel einmal zwangspausieren. Da hat unser Vater erstmal im Mai oder Juni letzten Restschnee im Straßengraben gesucht, und der wurde dann dem leer gekochten Kühler zugeführt. Aber wir waren oben!
Und da war sie wieder, die innerdeutsche Grenze! Derzeit hatten meine Eltern noch den richtigen Stempel im Sperrgebiets-Passierschein. Der stammte noch aus Tanner Zeiten.
Später wurden die Autos etwas besser, auf den Brocken hat es aber keines mehr geschafft. Der Berg wurde komplett verrammelt. Dass uns die Regierung nun verbot den Blocksberg zu befahren oder zu besteigen, fand bei mir schon damals nur Unverständnis. Warum vertraute die mir nicht mehr, ich bin doch 1955 auch, trotz Karstadt-Rolltreppe, aus Düsseldorf zurück gekommen?
Da ich wusste, dass im Westen auch gute Menschen wohnen, zu denen ich einen Bezug hatte, habe ich die deutsche Teilung von je her, wesentlich intensiver als viele meiner gleichaltrigen Schulkameraden, als großes Unrecht empfunden. Konnte auch nie verstehen, dass meine Mutter diese Grenze für richtig befand. Ihr Tun war mir zu widersprüchlich!
Wieso Tante Aenne und Onkel Hans in Düsseldorf und Tante Reia und Onkel Otto in Kanada nun unsere Feinde sein sollten, habe ich nicht begriffen. Diese plumpen Pauschalierungen störten mich sehr bald und zunehmend.
Diesbezügliche kindliche Fragen meinerseits und spätere Diskussionen wurden ihrerseits aber nie zugelassen. Pakete aus Düsseldorf und aus Kanada schon, die hat sie nie zurückgewiesen. Doppelmoral? Oh ja, Kinder spüren das!
Dass die Grenze gut ist, war aber Staatsdoktrin, da wurde nicht dran gerüttelt. Sie erklärte mir aber auch nie, was daran gut sein sollte. Solche Fragen wurden immer plump abgewürgt. Und da ging schon im Kleinen die hilflose Verlogenheit los.
Denn: Wer Diskussionen ausweicht, hat keine Argumente!