Jeden Monat fuhr meine Mutter per Bahn oder PKW einmal zum 24-köpfigen Urania-Präsidium nach Berlin, dem auch sie angehörte. Ihr Fahrer hatte dann bis zur Rückfahrt Freizeit.
Da wurde dann eingekauft, so ziemlich alles was es in der “Provinz” nicht gab. Zum Beispiel Südfrüchte, edle Salami oder simples Klopapier.
Die Anreise erfolgte wie heute von Magdeburg kommend, doch konnte niemand über Drewitz/Dreilinden fahren, denn eine “schöne” kreisrunde stets festlich beleuchtete Grenze um West-Berlin verhinderte das.
Die Fahrt ging also südlich an Schönefeld vorbei, um dann einen Haken schlagend (über das Adlergestell durch Köpenick fahrend) Berlin, die Hauptstadt der Deutschen Demokratischen Republik, mit mindestens 50 km Umweg zu erreichen.
An allen Berliner Ausfallstraßen waren in den 60-er Jahren zu allem Überfluss noch militärische Straßensperren, wie im heutigen Westjordanland zu durchfahren. Nach all den widrigen Personenkontrollen hatte man es dann geschafft (oder eben auch nicht).
In den großen Ferien durfte ich etwa 3 Mal mitfahren. Ich bekam etwas Taschengeld außer der Reihe in die Hand gedrückt und machte als 13- bis 15-jähriger Junge Ost-Berlin unsicher.
Als erstes kaufte ich ein 50-Pfennig-Aufbaulos und gewann umgehend 20 Mark. Ein schöner Tag!
Ich lief “Unter den Linden” vom Zeughaus bis an die Absperrung vor das Brandenburger Tor am Pariser Platz. Weiter ging es nicht!
Was ist wohl dahinter?
Weitere Blicke in den Stadtteil Tiergarten, mit seiner schon damals alles überblickenden “Gold-Else” auf dem Großen Stern, waren durch die, hässliche Berliner Mauer, den sogenannten “Antifaschistischen Schutzwall”, versperrt.
Es war ja keineswegs so, dass die Westberliner die Eingesperrten waren. Nein, denn die konnten diese Exklave ja jederzeit zu jedem Punkt dieser Erde verlassen. Richtig ist, dass uns Ostdeutschen und vor allem den Ost-Berlinern jeder Zutritt nach West-Berlin versperrt war, 28 lange Jahre.
Um meinen ersten Berlinbesuch abzurunden fehlte mir nur noch ein Besuch bei der Staatssicherheit! … Bin aber, um es vorweg zu nehmen, nur bis vor’s Tor irgend einer Versorgungseinrichtung gekommen!
Irgendwo nahe dem “Adlergestell” hatte der Urania-Fahrer plötzlich anzuhalten. Meine Mutter stieg aus, wechselte die Straßenseite über alle vier Fahrspuren und klingelte an einem großen verplatteten Eisentor. Mein Onkel kam umgehend heraus. Jetzt wusste auch ich, dass hier seine Arbeitsstelle, eine Versorgungsstelle der Staatssicherheit war. Hier arbeitete also mein Onkel Herbert, ihr Bruder.
Alles in allem vergingen keine 3 Minuten. Der Onkel stellte 5 große Papiersäcke vor die Tür und verschwand wieder, hastig, ohne mich zu begrüßen. Meine Mutter verstaute alle Säcke in Windeseile im Kofferraum des “EMW”. Dann ging die Fahrt Richtung Quedlinburg weiter.
Ich wurde zum absoluten Schweigen über das Gesehene vergattert. Doch warum Schweigen? Wenn alles rechtens ist, braucht doch niemand lügen oder etwas verheimlichen!
Die Tüten wurden in Quedlinburg irgendwann irgendwie aufgeteilt. Etwas zum Klappehalten für den Fahrer, einen Teil einer Tüte für Zottmanns, einen Teil für …
Wer noch was bekam oder bekommen musste bzw. wer oder welche Dienststelle den Löwenanteil erhielt, entzieht sich allerdings meiner Kenntnis.
Es ist jedoch nahe liegend, dass die Kreisdienststelle der Stasi in Quedlinburg die Zieladresse war und die Bonbons sicher nicht für ihre Inhaftierten gedacht waren.
Fakt ist aber, das der gesamte Inhalt gestohlene Bonbons aus Westpaketen waren. Angeblich wurden diese beschlagnahmt, weil die “verbrecherischen Bonner Ultras” in den Süßigkeiten verbotener Weise Tabletten schmuggelten.
Ich wurde ungewollt Zeuge eines klitzekleinen Puzzle-Teiles in Mielkes professionell betriebenem Postklau.
(Heute ist durch die Ermittlungen der Gauck-Behörde nachgewiesen, dass die “Stasipostler” tagtäglich in jedem einzelnen der 14 DDR-Bezirke mindestens 4.000 Pakete durchschnüffelten und in Selbstbedienung entnahmen, was gefiel …)
Warum aber bringt eine Mutter ihren minderjährigen Sohn in eine solch zwiespältige Situation?
Erziehungsberechtigten muss klar sein, dass Kinder und Jugendliche dieses Alters schon wesentlich mehr mitbekommen, als ihnen lieb ist!
Anzumerken ist, dass es die Urania-Berlin-Fahrten später monatlich einmal gab. Monat für Monat! Jahr für Jahr! Oft mit gleichem Haltepunkt.
(Erklärend ist anzumerken, dass in der DDR jeder Nomenklaturkader automatisch zur Zusammenarbeit mit der Staatssicherheit verpflichtet und auch jederzeit dazu bereit war.)
Ihr Vater und ihr Bruder waren seinerzeit hauptamtliche Mitarbeiter. Über beide Fakten machte ich mir aber damals logischer Weise keine Gedanken, denn das war so gegeben, genauso, wie es jeden Winter schneite.
Hatten meine Schulfreunde Bonbons, oder Bollchen, wie es in Quedlinburg heißt, dann wurde geteilt. Hatte ich Bonbons, musste ich sie heimlich lutschen. Nie sollte davon jemand erfahren …
So wurde mein “Kollektivgeist” gestärkt …
1967 sah ich dann den Bau des Fernsehturms und die Kuppelmontage auf der Grünfläche gegenüber des Roten Rathauses.
Kurz nach der Einweihung 1969 war ich, bereits 18-jährig, mit meiner Mutter nach ihrer Urania-Sitzung zum krönenden Tagesabschluss auf den Fernsehturm “Sankt Walter” mittels Lift gefahren.
“Sankt Walter (Ulbricht)”, weil die Turmkugel ungewollt bei Sonnenschein immer ein schönes Kreuz erstrahlen lässt (in der Sowjetunion wäre der Architekt sicher sofort hingerichtet worden). Hier aber bekam der Turm nur seinen markanten Namen vom Berliner Volk und dessen Berliner Schnauze verpasst …
Die Ost-Elite wollte mittels Fernsehprominenz nun den Turm umbenennen, wollte gegensteuern. In Fernsehunterhaltungssendungen wurde nun vom “Telespargel” geredet. Diesen blödsinnigen Ersatznamen ließen sich die Berliner aber nicht aufdrücken …
Oben angekommen, suchte ich gleich das Brandenburger Tor.
“Dahinter das ist also West-Berlin?” – “Ja, Volker.” – “Und davor, das ist Ost-Berlin?”
Da wurde Mutter fuchtig, schaute sich unsicher um und herrsche mich dann an: “Das ist der demokratische Sektor!” (Dieser komische Satz fiel wortwörtlich.)
Nun wußte ich Bescheid.