Kyffhäuser (Quelle)

Unsere Wochenendfahrten brachten uns zu schönen Zielen der näheren Umgebung. Einige Male befuhren wir auch das Kyffhäuser-Gebirge. Besuchten den Fernsehturm auf dem Kulpenberg und erwiesen Kaiser Barbarossa die Ehre.

Meist wurde dann auf der Rücktour in Sangerhausen ein Zwischenstopp bei Familie E. eingelegt. “Tante” Christa, Vaters Cousine, folglich meine Großcousine und Vaters gleichaltriger Schulfreund Helmut, wurden besucht. Hier gab es immer guten Kuchen.

Ihre Töchter Angelika und Ilona spielten dann mit uns Geschwistern im Kinderzimmer. Dort bei Familie E. verspürte ich jedes Mal ein wohliges Gefühl. Dass diese Familie intakt war, verbarg sich mir nicht.

Bei unserer Ankunft lag meistens Onkel Helmut, wenn zu Hause, auf der Couch. Als Bergmann bereits gesundheitlich angeschlagen, betraute man ihn, sozusagen als Schonplatz, mit dem Werkfunk der gesamten Kupferschiefergrube.

Diese Arbeitsjahre sollten ihm laut Parteisekretär auch als Bergmann für die Untertagezulage (Rente) angerechnet werden. Als er 50 wurde, eröffnete man ihm, dass ihm nun doch noch etliche Unter-Tage-Jahre, mehr als angenommen, zur Pensionierung fehlen. Kurzgesagt, der Parteisekretär der ihm einst Zusagen machte, konnte sich mit einem Mal nicht mehr erinnern, beging Wortbruch …

Onkel Helmut musste nun ab sofort, für den Wortbruch der SED mit 10 weiteren langen, schweren Arbeitsjahren unter Tage büßen. Mit 60 wurde er endlich Rentner und bezahlte bereits ein Jahr später 1986 die erlittenen Qualen mit seinem Leben …

In den Sommern fuhren wir nun öfters in den Harz, während der Touren entdeckten wir auch hin und wieder “Neuland”. Der Nationale Verteidigungsrat löste sporadisch, aber dennoch nur spärlich, einzelne Teile des Grenzschutzstreifens aus dem 5 km breiten Sperrgebiet heraus. So wurde dieses teilweise etwas schmaler und bisherige Sperrgebietsteile konnten nun wieder ohne Passierschein und von allen DDR-Bürgern betreten oder befahren werden. So auch Tanne.

Den vielen unschuldigen Einwohnern von mindestens 27 Orten entlang der DDR-Westgrenze half das aber nichts mehr: Die weit mehr als zehntausend Einwohner mussten Jahre zuvor für ein freies Schussfeld ihre Wohnungen und Häuser für immer verlassen. Sie wurden vergrault, vertrieben. 27 DDR-Dörfer wurden komplett geschleift! Diese Zahl entnahm ich der Internetseite grenzerinnerungen.de vom mir persönlich bekannten evangelischen Pfarrer Florian-Michael Bortfeldt aus dem Emsland, aus Ostrhauderfehn, die aber ausdrücklich keinen Anspruch auf Vollständigkeit erhebt. So könnten noch weitere, mir unbekannte Orte unter dem Tarnnamen “Ungeziefer” von 1952 und der Aktion “Kornblume” 1961 dem Schleifen anheim gefallen sein.

Einige andere Dörfer wurden ebenso platt gemacht, für Truppenübungsplätze.

So beispielsweise das Dorf Zschernick in der Annaburger Heide. Mitte der 1950-er Jahre wurden dort alle Bewohner zwangsenteignet und vertrieben. Von Räumungen für Braunkohlentagebaue will ich nicht sprechen. Hierfür kann man teils noch Verständnis aufbringen.

Solche Schleif-Aktionen gab es also nicht nur während des 30-jährigen Krieges! Dort, entlang der Grenze, steht heute nichts mehr. Allenfalls ein nach 1989 aufgestellter Erinnerungsstein, zum Gedenken und zur Mahnung.

Das waren meines Erachtens mit die schlimmsten kollektiven DDR-Verbrechen!

Was der 2. Weltkrieg nicht schaffte, ließ nun die DDR-Führung in Friedenszeiten zerstören.

Wachturm (Quelle)

Schmaler konnte das Sperrgebiet auch darum werden, weil es undurchlässiger gestaltet wurde.

So wurden ab 1969 lückenlos Beton-Wachtürme errichtet und ab Januar 1970 der perfide Plan, dass sich die Grenzverletzer gefälligst selbst erschießen mögen, radikal umgesetzt. An weiten Strecken des Metallgitterzaunes, etwa 440 km, wurden mindestens 60.000 trichterförmige Selbstschussvorrichtungen vom Typ SM70 installiert. Die waren mit jeweils 100 g TNT-Sprengstoff und 80 bis 110 scharfkantigen Metallteilen bestückt und wurden durch Stolperdrähte von den potentiellen “Grenzverletzern” von Ost nach West selbst ausgelöst. Dadurch verendeten aber auch massenhaft Wildtiere jeder Größe. Diese Automaten schossen dann streuend bis 120 m weit. Falls die Flüchtenden nicht bereits zuvor durch eine vergrabene Plastik-Personenmine zerfetzt wurden.

Selbstschussanlage (Quelle)

Auf solch abscheuliche hinterhältige Weise wurde der 25-jährige aus Parchim stammende DDR-Bürger Wolfgang Vogler am 14. Juli 1974 um 18:40 Uhr bei seinem Fluchtversuch gleich von drei Selbstschussautomaten SM70 niedergestreckt.

Als dieser Automatenmord geschah, war unser Sohn Carlo gerade knapp 2 Monate alt!

Das geschah hinter Benneckenstein, an der Demarkationslinie bei Hohegeiß im Harz. Dieser Flüchtling ist leider nicht der einzige, bei Hohegeiß Ermordete.

So etwas dachte sich die selbsternannte Führung der Arbeiterklasse für ihre eigene, allerdings nur für die freiheitsliebende und fluchtbereite, Bevölkerung aus …

Das war beispiellos in der bisherigen Menschheitsgeschichte!

Davon wusste ich zu DDR-Zeiten logischer Weise nur ansatzweise. Was man darüber erfuhr, kam bröckchenweise vom ARD- und ZDF-Fernsehen. Hierüber wurde von den DDR-Oberen der Mantel des Schweigens gehüllt.

Parallel hierzu wurde die KSZE-Akte für Menschenrechte in Helsinki erarbeitet, an die sich auch diese Heuchler halten wollten.

Doch die Blutspur, gelegt vom Zentralkomitees der SED, zieht sich entlang der gesamten ehemaligen Westgrenze. Die ganze DDR-Führungsriege hätte da schon für ihre Menschenrechtsverletzungen vor ein UN-Tribunal gehört. So, wie zu den Nürnberger Kriegsverbrecher-Prozessen.

Kaum ein politisch verantwortlicher Täter ist später je zur Verantwortung gezogen worden; Wolfgang Vogler aber ist immer noch tot!

Trotz schönster Naturkulisse störte mich jede Straße im Harz, an der es nicht weitergehen sollte. Und das nur, weil ein paar Staatsmänner der Siegermächte sich das in Jalta auf der Krim und in Potsdam / Schloss Cecilienhof 1945 in Folge des 2. Weltkrieges so auskungelten. Die bloße Willkür ließ uns nun im Ostteil leben.

Solche Überlegungen teilte ich im Geheimen mit meinem Vater, wir sponnen manchmal wenn wir allein waren, was wäre wenn …

Der komplette Harz und auch weite Teile Sachsens waren zu Kriegsende von den Amerikanern besetzt. Doch die Siegermächte tauschten diese Gebiete einvernehmlich gegen Westberlin, das bisher auch sowjetisch besetzt war, aus.

Und nur darum wurden wir nun auch fast ein Teil der Sowjetunion, nämlich die 18. Sowjetrepublik “Abstrusistan”, auch DDR genannt …

Ebensogut hätte der Bayrische Wald und München von Russen belagert werden können. Darüber sollte sich jeder Westdeutsche, der heute noch über Ostdeutsche abfällig redet, im Klaren sein. Diese Willkür der Grenzziehung hätte nämlich auch sein ganzes Leben dramatisch verändern können. Zum großen Glück gibt es von diesen verbohrten Zeitgenossen hüben wie drüben nur relativ wenige und die sterben zwangsläufig langsam aus.

Für alle Ostdeutschen war der 2. Weltkrieg einschließlich der zu recht erhobenen immensen Reparationsleistungen an die “friedliebenden Völker der Sowjetunion” erst im Herbst 1989 wirklich zu Ende. Auch wenn dies der Eine oder Andere ganz anders sieht. Das ist aber ein unabänderlicher Fakt!

“Unser” 2. Weltkrieg dauerte in Echtzeit 50 (!) Jahre. Erst danach begann hier der wirkliche Wiederaufbau.

Der einzig Hauptschuldige an allem aber bleibt für mich doch Hitler!

Durch die Gespräche mit meinem Vater merkte ich recht frühzeitig, dass ihm auch vieles überhaupt nicht gefiel, doch machen konnte auch er dagegen nichts. Der Einzelne war in der DDR zum Kuschen und Stillhalten verdammt. Und konnte sich nie sicher sein, ob nicht auch er gerade vom Staatssicherheits-System beäugt, belauscht und überwacht wird. Das dies so war, sollte sich später für uns beide noch bewahrheiten!

Ich weiß nicht, wen von uns beiden der Schlagbaum am Ortsende von Tanne in Richtung Braunlage, der quer über der Fernverkehrsstraße 242 (heute B 242) jeden Verkehr verhinderte, mehr störte. Was hatte das mit Fernverkehr zu tun?

Hinterm Horizont geht’s weiter … sang später Udo Lindenberg, für uns jedoch war hier Schluss! So hatten trotz schönster Naturkulisse meine Harzfahrten oft einen faden Beigeschmack.

Selbst auf vielen unserer Schul-DDR-Landkarten und Berlin-Karten war an der Westgrenze Schluss. Alles westlich davon war über viele Jahre weißes Papier. Der Westteil wurde freigelassen, ausgespart, nicht kartographiert. Hinter Tanne/Sorge also begann offensichtlich die Arktis, denn alles war weiß!