Während dieser Zeit kümmerte sich meine Mutter sporadisch um zwei alte SED-Genossen. Karl (Kulle) Kleeberg war ein städtischer Gärtner und bereits im 1. Weltkrieg bei Kampfhandlungen verschüttet worden. Er wurde zwar gerettet, hatte aber fortan gewaltige gesundheitliche Probleme und ein Nervenleiden. Er wurde von vielen dummen und nichtwissenden Quedlinburgern gehänselt und nur “Kulle A A” genannt. Bei seinen Nervenzuckungen stieß er öfters seltsame Laute, eben dieses kurzgesprochene “A A” aus.
Emma Oppermann aus der Pestalozzistraße war ein ganz anderer Fall. Sie hatte zwar kein Nervenleiden, glaubte aber trotzdem inbrünstig an den Sieg des Sozialismus.
Mein Vater verlor fast jedes Mal seine Nerven, wenn Emma ihm begegnete. Sie riss dann grundsätzlich die geballte rechte Faust in die Höhe und rief ihm “Tach, Jenosse Zottmann!” zu.
So geschah es auch im Konsum vom Herrn Orgass in der Stresemannstraße. Alle Kunden drehten sich danach zum “Jenossen” Zottmann um. Da rief er ihr in meinem Beisein laut entgegen: “Frau Oppermann, wie oft soll ich’s ihnen noch sagen, ich bin nicht in ihrer Partei und ein Genosse schon gar nicht!”
Geholfen hat es nicht wirklich, sie glaubte wohl weiter, dass alle in der SED sind und ihrem Sozialismus huldigen.
Bis … ja bis sie nach der Grenzziehung erstmals in den Westharz reiste durfte, um ihren dort in Herzberg/Harz lebenden Sohn zu besuchen. Kurz nach ihrer Abreise war Emma aber schon wieder zurück. Erst dachten alle, die “Rote Emma” hat’s im Westen nicht ausgehalten, doch weit gefehlt …
Sie kam postwendend zu uns gelaufen, denn nun sollte meine Mutter ihre Beziehungen spielen lassen und alle erforderlichen Papiere schnellstmöglich zusammentragen und ausfüllen, damit Emma sofort und für immer ausreisen konnte.
Die Frau war total gewandelt: “Mein Sohn hat mich mit seinem großen Straßenkreuzer abgeholt. Ein knallroter Wagen! Und im Fischladen gab es Aal, den gibt es da immer …! Da habe ich gleich welchen gekauft und direkt vor dem Laden aufgefressen …! Hmmm …! Die Leute haben etwas komisch geguckt, war mir aber egal! Und Volker, was soll ich dir sagen, da gibt es immer Bananen …”
Ja, das dies stimmt, wusste Volker schon lange. Er durfte es leider nur nie mehr erzählen … Den Westen zu glorifizieren war für ihn schon lange tabu.
Und nun schwärmte die alte Genossin Oppermann von ihrem bisherigen Klassenfeind.
Sie versprach mir, sobald sie drüben sei, von ihrer ersten West-Rente eine ganze Bananenstaude zu schicken!
Emmas Papiere wurden eingereicht, dann wurde die verdiente Genossin nach üblicher Wartezeit gönnerhaft in den Westen entlassen, wohl auch um Ost-Rente zu sparen …
Obwohl sie allseits offerierte, auch ihren glasgerahmten Ernst Thälmann (im KZ Buchenwald hingerichteter kommunistischer Arbeiterführer) mitzunehmen, wurde von ihr seitens der SED nur noch mit Verachtung gesprochen. Auch mein Opa schimpfte jetzt wie ein Rohrspatz auf Emma Oppermann, die Fahnenflüchtige: “Wenn die da drüben ihren Koffer kontrollieren und Thälmann finden, buchten sie die sowieso gleich ein …” Das habe ich schweigend registriert …
Niemand von den lieben SED-Genossen akzeptierte, dass Frau Oppermann in ihrem hohen Alter lieber bei und mit ihrem Sohn leben wollte, scheißegal ob nun Ost oder West.
Die Bananenstaude hat uns allerdings nie erreicht. Die hat sich, falls wirklich abgeschickt, Mielkes Räuberbande auch unter den Nagel gerissen …