Während dieses ersten Rätssee-Urlaubs, also 1966, stand eines Tages ein demolierter Panzer T 34 am Waldesrand neben einem riesigen Findling nahe der Diemitzer Schleuse. Wir turnten alsbald unbefangen auf dem Panzer herum. Auf einem Mal tat sich im Inneren etwas. Wir sprangen sofort runter. Die Turmluke öffnete sich und ein blutig verkrusteter Kopf sah zu uns herunter. Der arme Soldat war gegen diesen Findling gefahren und hatte die rechte Antriebswelle weggerissen. Er hat sich dabei im Panzerinneren den Kopf aufgeschlagen. Dieser war nun mit einer Blut durchtränkten Binde umwickelt.
Unser aller Glück war, dass Christel in eine Rathener Spezialklasse ging und schon sehr zeitig Russisch lernte. Sie fungierte nun als perfekte Dolmetscherin.
Der Soldat war Boris N., 21 Jahre alt und aus Jaroslawl stammend, einer Großstadt mit Unesco Weltkulturerbe an der Wolga, etwa 240 km nordöstlich von Moskau gelegen.
Boris wurde als Panzerkommandant befohlen, nun nach dem Unfall allein den Panzer zu bewachen. Seine anderen teils verletzten Kameraden wurden in ihre Kaserne gefahren. Fast täglich kam eine andere Patrouille vorbeigeschaut, besah sich den Panzerschrott, brachte aber keinerlei Verpflegung mit. Boris wurde auch nicht ärztlich versorgt. Wir sahen seine trockenen rissigen Lippen und merkten, dass er ausgehungert, ja ausgemergelt war, leicht müffelte. Er stand schon einige Tage dort im Wald. Mittlerweile auch ohne jedes Getränk! Wir machten ihm klar, umgehend wieder zu kommen.
Am Zelt wurden dann schnellstens große Weißbrotschnitten dick mit Butter bestrichen. Dazu gab es von unserem Mittagessen, ein Schweineschnitzel, sowie ein großes Stück Bratwurst. Mit reichlich Essen und Getränken ging es wieder zurück. Boris lief augenscheinlich das Wasser im Mund zusammen aber er weigerte sich zuerst beharrlich, etwas anzunehmen. Er hatte offensichtlich große Angst. Wer weiß schon, was ihm im Politunterricht über die Deutschen für Gruselgeschichten erzählt wurden. Mein Vater gestikulierte ihm nun, und das brauchte Christel weiß Gott nicht übersetzen: “Ich Hitler! Alles vergiftet!” Er deutete ihm dabei einen Vogel und biss dann ins Essen, um zu zeigen, dass alles genießbar ist. Das kapierte Boris sofort und verschlang nun in voller Dankbarkeit alles Mitgebrachte.
Nachdem er Vertrauen fasste berichtete er uns, dass er nur noch 3 Monate zu dienen hatte und gestikulierte mit einer waagerechten Handbewegung am Hals, bis wohin es ihm stand, wie ihn seine Armeezeit anstank! Er wäre lieber hier verhungert, als seinen Panzer zu verlassen. Denn hätte eine Streife den Panzer verlassen vorgefunden, wäre er im günstigsten Fall “nur” für einige Jahre nach Sibirien in einen Gulag gekommen. Fahnenflüchtige Sowjetsoldaten wurden aber meist sofort, wie bei einer Hasenjagd erschossen. So ist es trauriger Weise auch drei Soldaten bei Benzingerode und einem in der Quedlinburger Feldflur ergangen.Das blieb Boris nun erspart. Wir tauschten glücklicher Weise rechtzeitig unsere Heimatadressen. Nach kurzer Rücksprache brachte der Schleusenwärter auch noch ein paar mal Suppe vorbei und wir weiteres Essen. Bis wir dann ohne jedes vorherige Anzeichen die Stelle geräumt vorfanden.
Mit Boris entstand daraufhin ein reger Briefwechsel, den ich noch heute, fast 45 Jahre später pflege. Mittlerweile sind wir beide im Ruhestand. Und beide hat uns, den Russen und den Deutschen, die sinnlose Militärzeit angekotzt. Auch das verbindet. Das war und ist für mich im Kleinen gelebte Freundschaft.
Dazu brauchte ich keine verordnete DSF! (Deutsch-Sowjetische-Freundschaft)
Bei einer Freundschaft ist es scheißegal, ob der Freund ein Russe, Jude oder Indianer ist. Da hat kein Staat reinzureden und Freundschaft kann erst recht nicht staatlich verordnet werden, wie zu DDR-Zeiten, erstmals während meiner Lehre.