Immer und immer wieder musste ich mir in vielerlei Hinsicht ein WARUM als Frage stellen.
Warum zogen beispielsweise meine Eltern just im Mai 1974 nach Neubrandenburg?
Sie wussten bereits fast neun Monate vorher, dass unser erstes Kind, ihr erster Enkel, (das Produkt einer stürmischen Liebesnacht) in diesem Monat auf die Welt kommen würde. Solch Ereignis können Großeltern sonst kaum erwarten …
Carlo kam pünktlich wie die Maurer am 22. Mai 1974 und machte unsere kleine Familie vorerst komplett.
Da ich ohnehin mit der “ES 175” von Silberhütte zur Meisterschule nach Quedlinburg fuhr, konnte ich noch vor Unterrichtsbeginn Reimonde besuchen und ein paar Blümchen überreichen. Mehr nicht!
Die Neugeborenen wurden damals nur während einer halben Stunde am Abend den Vätern gezeigt. Am Freitag bin ich wieder, aber während meines Unterrichts in die Geburtsklinik gefahren. Als ich Carlo sehen wollte, wurde unmittelbar vor mir die blickdichte Gardine hinter der Fensterscheibe zugezogen. Nach einigem Klopfen und Meutern, kam eine Schwester und sagte, dass heute Schluss sei, denn alle Neugeborenen hätten heute mit ihren Vätern bereits Bekanntschaft geschlossen.
Nach einigem Gezeter glaubte mir dann die gute Frau, dass ich und ein weiterer Vater nun schon zwei Tage nach Geburt, unseren Nachwuchs immer noch nicht gesehen hatten.
Mit missmutiger Mine wurde nun die Scheibe nochmals freigegeben. Da stand die Schwester mit einem total faltigem Etwas auf dem Arm, und wir beiden Väter hofften, dass der kleine Wicht dem Anderen zugesprochen wird …
“Na, wer ist nun der Glückliche? Wer heißt Zottmann?”
Es erwischte mich!
Aus dem Krankenhaus raus, habe ich Reimonde im 1. Stock nochmal zugewinkt. Dann fuhr ich fix und fertig zu Tante Judith. Die lachte sich über meine “Erschütterung” kaputt. Ich hatte mein erstes Kinderfoto, das obligatorische Baby auf dem Bärenfell, dabei und meinte, unser Carlo müsse bereits genauso drall und glatt sein, wie sein etwa 3 Monate alter Vater …
Judith machte mir nun recht schnell begreiflich, das Falten normal seien. Und mit zunehmender Rederei und verstreichender Zeit wurde mein Sohn in meinem Kopf immer schöner.
Nüchtern betrachtet haben ja alle Babys was gemeinsam – sehen wie knitterige junge Hunde aus …
Mein kleines faltiges Häuflein Mensch ist jedenfalls ein stattlicher junger Mann von nunmehr 36 Jahren und 1,94 m geworden. Und seine Herkunft will und kann er auch nicht leugnen.
Meine Mutter hatte im Jahr zuvor ein SED-Studium zum Diplgewi (Diplom-Gesellschaftswissenschaftler) abgeschlossen und wollte nun ihre Karriere als ein 2. Bezirkssekretär der Urania voll ausleben. Meine Familie samt Enkel war da nebensächlich!
Das hat mir, das hat uns unendlich weh getan …
Meinem Vater aber wurde das Umziehen schmackhaft gemacht, er wurde Werbeleiter im Hotel “Vier Tore” in Neubrandenburg und so war die Sache schnell beschlossen. Kurze Zeit später brach er mit einem Herzinfarkt zusammen und wurde invalidisiert. Er konnte nicht verwinden, dort nur noch sinnlos in täglichen Leitungssitzungen seine Arbeitszeit zu vergeuden, anstatt echte Werbung zu betreiben.
Auch meine Schwester, mittlerweile 19 Jahre, ist mit dorthin gezogen. Sie zog aber bald zurück nach Quedlinburg, Neubrandenburg wurde nie ihre Stadt!
Familie aber, mit uns und mit ihrem Enkel Carlo, wurde nicht gelebt …
Mein Vater hatte durch diese einsamen Entscheidungen jedoch auch keinerlei Möglichkeit seinen ersten Enkel aufwachsen zu sehen. Die war ihm genommen.
So sind wir alle dann wegen meiner Mutter und ihrer Urania-Karriere 18 lange Jahre gependelt. Zu jedem Besuch! Jedes Mal 340 km hin und auch wieder zurück. Das war auch teuer, denn unsere Gehälter blieben vorerst klein.
Zu ihrer Silberhochzeit sind meine Eltern am 9. Juli 1974 das erste Mal zurück in Quedlinburg gewesen. Es gab eine große Feier in der damals noch stehenden Brühlgaststätte. Viele Verwandte kamen. Sogar Tante Maria und Onkel Otto Zottmann aus Kanada sind erstmals in die DDR eingereist, mitsamt ihrer Schwester Aenne und deren Sohn Erhard.
Ich wunderte mich nur, dass die Familie meines Onkel Herbert, des Bruders meiner Mutter, er war ja hauptamtlicher Mitarbeiter der Stasi und mittlerweile in Quedlinburg wohnhaft und im Dienstgrad eines Offiziers als Wachleiter tätig, nicht den Weg zur Feier fand.
Erst viele Monate später sickerte durch, dass die Staatssicherheit, also seine eigenen Genossen sein Grundstück am Bornholzweg und auch die Rückseite, zur Westerhäuser Chaussee abriegelten. Onkel Herbert und Familie hatten Hausarrest, bis die Feier seiner Schwester beendet war, und sich der Klassenfeind aus Kanada und dem Rheinland verdünnisiert hatte.
Das Arbeiter- und Bauernparadies DDR stank zum Himmel, begann derzeit bereits von innen zu faulen. Kritik trauten sich aber all die Genossen selbst innerhalb unserer “Großfamilie” nie zu üben. Sie alle ergaben sich dem “unausweichlichen” sozialistischem Schicksal. Lobhudelten weiter treu auf ihren Sozialismus, der hier spürbar auch ihre ganze Familie entzweite.
In diesen Tagen deutete meine Mutter in Harzgerode an, daß 2 Personen aus den Familien sich näher gekommen waren und dies wohl nicht ganz unproblematisch sei. Mein sinngemäßer Kommentar lautete damals, dass dies wohl keinerlei Probleme mit sich bringt, denn wir, die DDR, seien doch der Schlussakte von Helsinki beigetreten.
Da dürfte es ja mit einer Familienzusammenführung keine Probleme geben. Meine Worte aber blieben unkommentiert. Unsere Mutter zog es vor, zu schweigen.
Ich muss es so sagen:
Von einer Diplom-Gesellschaftswissenschaftlerin hätte ich ein feuriges Statement dafür oder auch dagegen erwartet. Aber nichts, gar nichts kam über ihre Lippen. Sie traute offensichtlich auch den DDR-Schriftsätzen nicht und wich jeder Diskussion aus. Warum aber letztendlich aus der Liebelei nichts wurde, weiß ich nicht.
Eine andere Liebe aber wurde gelebt, trotz Staatssicherheit!
Edith, eine meiner Cousinen betreute als Abiturientin mit hervorragenden Französisch-Kenntnissen eine Delegation aus der französischen Partnerstadt Aulnoye Aymeries. Prompt verliebte sie sich in Frank, den Sohn des kommunistischen Bürgermeisters. Das war sicher den Verantwortlichen nicht recht, doch was sollte die Staatsmacht unternehmen, es waren doch französische Kommunisten? Und so kam es in den 1970-er Jahren zur ersten deutsch-französischen Hochzeit zwischen beiden Partnerstädten. Frank wohnte nun in Quedlinburg und arbeitete bei einer PGH Klempner als Heizungsmonteur. Sie bekamen 2 Kinder und dann verstarb Edith sehr jung. Das ist nun schon über 30 Jahre her, doch wird Frank noch heute wissen, was er für Schwierigkeiten bekam, mit seinen kleinen Kindern nach Frankreich dauerhaft ausreisen zu dürfen und welche Schwierigkeiten sein Schwiegervater bekam, der ja als Staatssicherheits-Offizier arbeitete. Eine Schande, wie schleppend und unwürdig dieser ganze Vorgang von statten ging.
Unser Carlo wurde, weil Reimonde ihn noch stillte, mit nach Quedlinburg zur Silberhochzeitsfeier genommen und bei meinen ehemaligen Nachbarn, bei Erna und Werner P. zwischenzeitlich gut versorgt. Hier haben meine Eltern ihren Enkel das erste Mal kurz gesehen.
Meine Schwiegereltern haben sich jedoch für ihren Enkel sprichwörtlich fast umgebracht. Schwiegervater Erich hat Carlo allerdings nur noch knappe 2 Jahre erleben können.
Er starb im März 1976 unmittelbar vor seiner eigenen Silberhochzeit, schwer erkrankt, die Familie betreffend aber glücklich. Er starb 5 Minuten vor Mitternacht, und hat so seine eigene Silberhochzeit am folgenden Tag um diese 5 Minuten verfehlt.
Einen Tag später war auch noch der 50. Geburtstag meiner Schwiegermutter. Das waren für sie und Reimonde, für uns alle schlimme Tage.
Wer nicht zur Beerdigung erschien, waren meine Eltern. Das tat nicht nur weh, das war auch für mich sehr peinlich!