Mit meinem Umzug nach Harzgerode wechselte ich gleichzeitig auf die “WBK- Industriebaustelle Silberhütte” innerhalb des VEB Pyrotechnik Silberhütte. Anfangs gliederte man mich noch in die Maurer-Brigade Prudlik ein. Hier verblieb ich nur wenige Monate. Mein Spind für die Wechselwäsche wurde mir in einem Kellerraum eines Verwaltungsgebäudes zugeteilt. Kollege Heinz Guschker aus Dankerode fragte mich, ob ich wohl wisse, wer hier unten meinen Spind schon zuvor belegte. Ich verneinte logischer Weise und dann erzählte er mir eine ergreifende Fluchtgeschichte. Die abenteuerlichste die ich je hörte.
Ich erinnerte mich aber, diese Geschichte im Groben schon einmal in der “Aktuellen Schaubude”, einem Abendmagazin des NDR-Fernsehens gehört zu haben. Da erzählte ein geflohener DDR-Ingenieur, wie er mit Hilfe eines Mopedmotors unter Wasser die Ostsee Richtung Gedser durchschwamm. Auf Nachfrage, was er nach einem eventuellen Scheitern versucht hätte, antwortete er, für diesen Fall schon einen Schleudersitz erdacht zu haben, mit dessen Hilfe er sich dann über die Berliner Mauer katapultieren wolle …
Doch er hatte es bereits geschafft, und so erübrigten sich weitere Fluchtpläne.
Kollege Heinz Guschker berichtete mir dessen Namen, den ich mittlerweile längst wieder vergessen hatte. Doch durch meine jetzige neuerliche Recherche im Internet bin ich auf folgenden Bericht gestoßen, den ich wörtlich, in Kursivschrift gleich beistelle.
Ich weiß nicht woran es liegt, aber solche Schicksale, wie das von Bernd Böttger, haben mich immer bewegt, immer zutiefst berührt. Meine innere Sehnsucht Richtung westlicher Hemisphäre wurde nie gestillt! Ich hatte immer den gleichen Drang, nie aber den Mut gehabt, abzuhauen. Wollte auch nie mein eines kurzes Erden-Dasein riskieren. Tot werde ich noch lange genug sein, dem sollte kein Grenzer und keine Mine vorgreifen …
Mich beschäftigte alle Jahre das Wissen von besseren aber wohl nie erreichbaren Lebensumständen im Westen. Mich quälte der Gedanke, es nie ausprobieren zu können; ob letztendlich immer ein besseres Leben herausspränge, stünde auf einem ganz anderen Blatt.
Im Grunde wollte ich aber nie mehr, als meine selbstbestimmte Unabhängigkeit …
Doch nun der Bericht eines mir unbekannten Schreibers, der auch einst in Silberhütte arbeitete1:
Im Jahre 1968 wurde in der Aktuellen Schaubude ein junger Mann gezeigt dem die abenteuerliche Flucht aus der DDR in die BRD gelang. Den kenn’ ich doch, es müsste doch der Bernd, der Bernd Böttger, ein Freund und Arbeitskollege von mir sein. Tatsächlich, er war es! Er stammte aus Sebnitz und war aus Begeisterung zur Feuerwerkerei in einen Betrieb nach Silberhütte gekommen. Dort wurde er wegen seiner fantastischen Ideen und Vorschläge nicht immer für voll genommen und wurde deshalb auch Münchhausen genannt. Um sich körperlich abzuhärten rannte er oft im Winter splitternackt durch tiefen Schnee im Wald herum, was ihm auch den Spitznamen “Der Yeti” einbrachte. Ich ging von Silberhütte weg und traf ihn einige Jahre später in Magdeburg in einer Klasse einer Ingenieurschule, in der ich Unterricht gab, wieder. Nach seinem Weggang von der Schule habe ich ihn dann aus den Augen verloren. Bis eben zu jener Fernsehsendung. Durch einen Bekannten aus Sebnitz erfuhr ich dann 1973 von seinem mysteriösen Tod, näheres konnte er mir aber nicht dazu sagen. Erst später 1989 konnte ich mich im Mauermuseum in Berlin über sein weiteres Schicksal informieren. Nachstehend bringe ich einen Auszug aus einer Dokumentation des NDR:
“Im Jahre 1968 am Strand von Gral-Müritz: In einer hellen Vollmondnacht wagt Bernd Böttger die Flucht über die nasse Grenze Ostsee. Der junge Ingenieur hataus einem Hühnerschreck-Hilfsmotor in seiner Kellerwerkstatt ein Mini-U-Boot mit Verbrennungsmotor gebastelt. Doch der erste Fluchtversuch scheitert. DDR-Grenzer verhaften ihn und beschlagnahmen seine Erfindung. Nach acht Monaten Gefängnis baut er sich einen neuen Aqua-Scooter und flieht ein zweites Mal. Er will das dänische Feuerschiff Gedser Rev in 25 Kilometern Entfernung erreichen. Plötzlich gegen Mitternacht: Motorengeräusche, Todesangst. DDR-Genzboote patrouillieren jede Nacht in dieser Gegend. Bei starkem Seegang lässt sich Bernd Böttger knapp unter der Wasseroberfläche ziehen, orientiert sich am Sternbild Großer Wagen und erreicht erschöpft aber erleichtert sein Ziel. In Ost und West macht sein Fall Furore. Ausländische und deutsche Firmen reißen sich um den talentierten Ingenieur. Für die Pinneberger Ilu-Motorenwerke entwickelte er dann seinen Aqua-Scooter zur Serienreife. Böttgers Erfindung beurteilte wenig später Professor F. Müller von der Technischen Universität Berlin als “so umwälzend wie das Moped oder den Taucheranzug, oder besser: wie beides zusammen”. Von einer norddeutschen Firma wurde Böttgers Mini-U-Boot als Aqua-Scooter zur Serienreife weiterentwickelt. Aus James-Bond- Filmen kennt ihn inzwischen alle Welt. Ständig war Böttger unterwegs, um Geräte zu testen, konnte sein neues Leben genießen. Da ereignete sich am 27. August 1972 die Tragödie: Von einem Tauchgang vor dem kleinen spanischen Ort Cala Jonculs nahe Rosas kehrte er nicht lebend zurück. “Bernd Böttger ist vermutlich beim Ausprobieren von Tauchapparaten ertrunken”, hieß es im offiziellen Untersuchungsbericht der spanischen Behörden. Doch Bernd Böttgers Familie vermutet Mord durch die Staatssicherheit. Auch nach der Wende konnte der mysteriöse Tod nicht aufgeklärt werden.”
Mein Schnittpunkt mit Böttger war lediglich ein Spind, ein Umkleideraum, Jahre später. Zu damaliger Zeit wusste keiner seiner ehemaligen Kollegen, dass er bereits Monate zuvor vor Spaniens Küste ums Leben gekommen war.
Wir aber arbeiteten trotz unserer Träume weiter auf dieser Baustelle, von Stacheldrahtzaun und scharf bewaffnetem Betriebsschutz umgeben, in der eingezäunten, bis an die Zähne bewaffneten DDR …
Das erste was ich in der Pyrotechnik mitbauen musste, war ein Atombunker, zwischen den noch heute stehenden zwei “Mechanischen Hallen”. Bei dessen Fertigstellung und Übergabe mangelte es an Aktivkohle für die Füllung der Luftfilterkammern. Damit die Übergabe dennoch gewährleistet war, wies das Investbüro der Pyrotechnik an, dass statt dessen Kalksteinschotter eingefüllt wird.
Es war wirklich so, ich war dabei!
Die DDR war bekloppt! Die wären bei einem Atomschlag lieber sofort vor die Hunde gegangen, als ihrem Politbüro den Mangel an Aktivkohle anzuzeigen. Die Bunkerbesatzung wäre im Ernstfall noch vor der Zündung der ersten Atombombe verreckt …
Auch dadurch offenbarte sich mir wieder einmal die Nutzlosigkeit unseres Tuns.
Während meiner Meisterausbildung hatte ich dann 1973 zwölf frisch ausgelernte Ascherslebener Jungfacharbeiter auf der Silberhütter Baustelle “Schwarze Brücke” zu betreuen. Ich wurde ihr Brigadier (Polier). Das war nicht einfach, denn just nach ihrer Lehre reiste mehr als die halbe Truppe verordneter Maßen in FDJ-Kleidung zum so genannten “Inter-Pimper”, den 10. sozialistischen Weltjugend-Festspielen vom 28. Juli bis 5. August nach Berlin.
Seit die DDR am 3. Juli 1973 als Teil des Warschauer Vertrages offiziell die KSZE-Verhandlungen mit den Nato-Staaten aufnahm, und somit der Schlussakte von Helsinki mit den Weg bereitete, also auf dem Papier (und nur auf dem Papier) auch seinen Bürgern simpelste Menschenrechte, sowie das freie Reisen einräumte, wurde es im Staat “internationaler”. Nun hatten wir nicht mehr nur INTER-Hotels und INTER-Shops, nein nun wurde auch noch ein INTER-Pimper abgehalten …
Dazu wurden etwa 25.000 “glühende jugendliche Patrioten”, aus aller Herren Länder, viele davon aus Lateinamerika, eingeladen. Es kamen aber auch angeblich etwa 8 Millionen normale Besucher. (Die SED hat offenbar in Euphorie jeden Tag einzeln mehrmals gezählt und dann addiert, das sind aber nun mal die offiziellen Zahlen. Und fälschen konnte die SED sicher nicht erst zu den Wahlen.)
Da hatten die 4.000 eigens abgestellten Stasi-Leute alle Hände voll zu tun und konnten doch nicht alle überwachen. (Heute weiß man, dass zuvor über 500 Menschen vorsorglich in Psychiatrien weggesperrt wurden. Hunderte Bürger kamen zusätzlich in Vorbeugehaft. Das wurde damals natürlich nicht publik gemacht. Und etliche Jugendliche erhielten im Vorfeld ein prophylaktisches Berlin-Verbot. So sollten die Spiele ruhiger verlaufen. Diese Rechnung ging auf und die Gäste ahnten von all dem nichts.)
So frei wie dort hatten sich meine zukünftigen Kollegen nach ihrem eigenen Bekunden in der DDR noch nie bewegen können, sich noch nie gefühlt. (Doch frei reisen durften wir erst 16 Jahre später!)
Genosse Walter Ulbricht verdarb dann fast ihr sündiges Treiben, denn der starb während dieser Weltfestspiele. Da durfte aber die schizophrene DDR offiziell nicht trauern. Jetzt ist noch “lustig” angesagt, wurde von Honecker und Ober-FDJ-ler Egon Krenz angeordnet!
Einzelne bereits angelegte Trauerflore wurden sofort wieder entfernt. Ulbricht wurde auf Eis gelegt. “Der wird sich schon noch halten, in seinem Kühlfach” muss sein Ziehsohn Erich Honecker wohl gedacht haben. Der hatte ihn ja zwei Jahre zuvor gerade gestürzt, und nun versuchte der Walter mit seinem Tod, ein letztes Mal aufzubegehren. Das ließ sich der Honecker nicht gefallen!
Und meine Jungfacharbeiter kamen alle überglücklich, aber versaut zurück. Nur noch freie Liebe und feiern im Kopf, so verliefen deren Berliner Tage. Die pflanzten sich nicht nur auf den Straßen, nein auch in öffentlichen Parkanlagen fort, teils auch mit exotischen Schönheiten und unter den Blicken frivoler Zuschauer, doch zum Arbeiten hatten die verständlicher Weise vorerst null Bock!
Diese “arbeitsscheue Bande” an die Arbeit zu führen, sollte ich allein, gerade mal 3 bis 4 Jahre älter und von meinem Betrieb nun ganz allein gelassen, bewerkstelligen? Sinnlos!
Da kamen mir deren bald ins Haus flatternden Einberufungsbefehle zu Hilfe. Ich war nie für’s Militär, aber hier stand es mir mal hilfreich zur Seite. Ruck zuck waren fast alle eingezogen und mussten das alles noch erleiden, was ich für mich schon abgehakt hatte.
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Besagter Bericht fand sich bis vor einiger Zeit auf joikonet.spaces.live.com, ist aber nicht mehr live. ↩